Von Helen Ewald und Thomas Liebig
Ursprünglich erschienen in Personalwirtschaft – Global Mobility
Im Wettbewerb um Fachkräfte schneidet Deutschland laut einer Untersuchung von OECD und Bertelsmann Stiftung international nur mittelmäßig ab. Lediglich bei Studierenden rangiert das Land in der Spitzengruppe. Ein Problem ist die mangelnde Digitalisierung.
Humankapital wird für die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum immer entscheidender. Entsprechend bleiben Fachkräfteengpässe oder gar branchenübergreifender Fachkräftemangel volkswirtschaftlich nicht ohne Folgen. Während für die Sicherung der Fachkräftebasis die Aus- und Weiterbildung von inländischen Fachkräften – inklusive der vielen Zuwanderer, die sich bereits in Deutschland befinden – die vorrangige Stellschraube darstellt, kann die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland ergänzend helfen, den Arbeitskräftebedarf zu decken. Dabei sind die Grundvoraussetzungen nicht ungünstig. Bei im Ausland ansässigen Akademikerinnen und Akademikern, die auswandern möchten, ist Deutschland beliebt und rangiert hinter den Vereinigten Staaten und Kanada unter den populärsten Zielländern in 2021 (siehe Abbildung ). Doch kluge Köpfe sind nicht nur hierzulande gefragt. Der globale Wettbewerb um hochqualifzierte Fachkräfte wird zunehmend intensiver und erlaubt es migrationswilligen globalen Talenten sowie ihren Familien, sich unter einer Vielzahl von Destinationen zu entscheiden. Für sie sind deshalb
nicht nur die zuwanderungsrechtlichen Vorschriften wichtig, sondern auch die Infrastruktur und die die sonstigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Attraktivität hängt von vielen Faktoren ab
Seit 2019 analysiert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung die Rahmenbedingungen für hochqualifizierte Fachkräfte in ihren 38 Mitgliedsländern anhand einer Vielzahl von Attraktivitätsindikatoren. Diese berücksichtigen nicht nur wirtschaftliche Gesichtspunkte wie Einkommen und Steuern oder die Qualität der beruflichen Chancen, sondern weiche Faktoren. So wird die Migrationsentscheidung auch durch Zukunftsaussichten, die Möglichkeiten für Familienmitglieder, das Kompetenzumfeld, Diversität und Lebensqualität im Zielland beeinflusst.
Doch die Stärken und Schwächen eines Landes sind nicht für alle gleich. Je nachdem, ob es sich um internationale Studierende, hochqualifizierte Akademikerinnen und Akademiker oder Gründerinnen oder Gründer von Start-ups handelt, kann die Attraktivität der Rahmenbedingungen eines Ziellandes stark variieren. Nicht zuletzt unterscheiden sich auch die Visaanforderungen und Zulassungsbarrieren der verschiedenen Zuwanderungsgruppen. Daher werden die OECD Attraktivitätsindikatoren an die unterschiedlichen Migrantenprofile angepasst. Die Qualität der beruflichen Chancen im Zielland für internationale Studierende ergibt sich beispielsweise aus der Anzahl an Exzellenzuniversitäten, während bei hochqualifizierten Akademikerinnen und Akademikern die Arbeitsmarktsituation entscheidend ist. Entsprechend kann ein Zielland zum Beispiel Gründern und Gründerinnen hochattraktive Rahmenbedingungen bieten, während es gleichzeitig einen Wettbewerbsnachteil bei den internationalen Studierenden aufweist. Wie also positioniert sich Deutschland im internationalen Vergleich bei den unterschiedlichen Migrantenprofilen, wo hat sich das Land verbessert und wo besteht der größte Nachholbedarf?
Fehlende Digitalisierung bei Visaprozessen
Fachkräfte mit einem ausländischen Masterabschluss oder einer Promotion sind die mit Abstand bedeutendste Gruppe. Infolgedessen haben viele Länder Anstrengungen unternommen, die Visabestimmungen für diese Gruppe zu verbessern und Zulassungsbarrieren abzubauen. Deutschland tut sich hier allerdings trotz vielfältiger gesetzgeberischer Bemühungen nach wie vor schwer. Insgesamt schafft es Deutschland daher nur auf Platz 15 der Gesamtbewertung, drei Ränge niedriger als noch in 2019. So schneidet die Bundesrepublik vor allem in Bezug auf die Digitalisierung von Visaprozessen bei potenziellen Migranten nicht gut ab. Da die Nettolöhne auf dem Arbeitsmarkt entscheidend sind, ist die hohe steuerliche Belastung von Gutverdienenden ein Defizit. Ähnlich verhält es sich mit der Qualität der beruflichen Chancen. Trotz einer niedrigen Arbeitslosenquote und Fachkräfteengpässen können eine Vielzahl von zugewanderten Akademikern und Akademikerinnen ihre Kompetenzen auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht in Wert setzen. Besonders Menschen, die außerhalb der Europäischen Union geboren wurden und/oder ihren Universitätsabschluss im Ausland erworben haben, arbeiten trotz ihres hohen Bildungsniveaus häufig in gering qualifizierten Beschäftigungen (siehe Abbildung 2). Schließlich senkt auch die kritische Haltung Migranten und Migrantinnen gegenüber die deutsche Attraktivität. Die vielfach mangelnde Willkommenskultur trägt nicht dazu bei, Fachkräfte von Deutschland zu überzeugen.
Keine Spitzenpläne bei Gründern
Erfolgreiche Start-ups können durch ihre oft innovativen und disruptiven Geschäftsideen technologischen
Fortschritt fördern und neue Beschäftigungsfelder erschließen. Selbstverständlich existiert der „Gründergeist“ nicht nur bei im Inland Geborenen, sondern auch bei Zugewanderten. Aus diesem Grund hat mittlerweile eine wachsende Anzahl an Ländern spezielle Start-up Visaprogramme entwickelt, um aufstrebende Unternehmertalente für eine Existenzgründung anzulocken. Deutschland zählt allerdings nicht zu dieser Gruppe und verliert somit deutlich an Attraktivität bei den erstmals untersuchten migrationswilligen Gründern und Gründerinnen von Start-ups. Insgesamt liegt Deutschland daher nur auf Rang 12 der beliebtesten Zielländer. Auch andere Faktoren spielen bei dem mittelmäßigen Abschneiden eine Rolle. Zusätzlich hapert es bei der Diversität. So ist die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz von Migranten und Migrantinnen sowie der Anteil von Erfinderinnen in Deutschland sehr gering – eine Tatsache, die vor allem Gründerinnen abschrecken dürfte. Zu guter Letzt fällt der schleppende Glasfaserausbau erheblich ins Gewicht. Wie auch bei anderen Zuwanderungsgruppen ist langsames Internet in Zeiten der digitalen Ökonomie für innovative Existenzgründer und Gründerinnen ein Minuspunkt.
Platz zwei bei internationalen Studierenden
Internationale Studierende sind in Deutschland wie in anderen Ländern auch eine stark wachsende Gruppe. Da sie über einheimische Studienabschlüsse verfügen und oft bereits Sprachkenntnisse sowie Erfahrungen im Gastland vorweisen können, sind sie als „vorintegrierte“ Arbeitskräfte für Unternehmen besonders interessant. Dies haben viele Länder, inklusive Deutschlands, mittlerweile erkannt und über die vergangenen zehn Jahre eine Vielzahl an Politikmaßnahmen verabschiedet, die internationale Studierende anlocken und insbesondere das Bleiben nach dem abgeschlossenen Studium erleichtern sollen. Deutschland ist für internationale Studierende sehr attraktiv. Im Vergleich zu 2019 hat Deutschland seine Attraktivität weiter gesteigert und ist nunmehr das ansprechendste Zielland nach den Vereinigten Staaten. Zu Deutschlands Beliebtheit tragen besonders die niedrigen Studiengebühren bei. Der Standort Deutschland überzeugt Studierende so mit einer nicht unerheblichen Anzahl an Exzellenzuniversitäten und einem zunehmend großen Angebot an Studiengängen in englischer Sprache. Zusätzlich locken auch Arbeitsmöglichkeiten während des Studiums sowie die Möglichkeit eines verlängerten Aufenthaltes nach dem Universitätsabschluss. Letzteres klappt in Deutschland besonders gut. Über 60 Prozent der internationalen Studierenden bleiben nach ihrem Studienabschluss weiterhin ansässig, während in anderen Ländern die Mehrheit das Land verlässt (Kamm und Liebig, 2022)
Wie kann Deutschland attraktiver werden?
Um im internationalen Fachkräftewettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten, gilt es, dem bestehendem Interesse an Deutschland nicht nur mit aktiver Migrationspolitik, sondern auch mit entsprechenden sonstigen Rahmenbedingungen zu begegnen. Bei hochqualifizierten Akademikerinnen und Akademikern ist der Anfang bereits gemacht. So soll in Zukunft der Arbeitsmarktzugang für anerkannte Fachkräfte ohne formale Abschlüsse erleichtert werden und ihre Erwerbstätigkeit branchenübergreifend möglich sein. Zusätzlich sind auf politischer Ebene Maßnahmen für eine verbesserte „In-Wert-Setzung“ der Kompetenzen von hochqualifizierten Zuwandernden sowie Erleichterungen beim Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft im Gespräch. Dies gilt auch für den Ausbau der Digitalisierung von Visaprozessen. Bei erfolgreicher Umsetzung dieser Punkte könnte Deutschland seine Attraktivität bei Akademikern und Akademikerinnen erheblich steigern und bis zu sechs Ranglistenplätze gutmachen. Sollte sich außerdem die gesamtgesellschaftliche Einstellung gegenüber Migranten und Migrantinnen verbessern, könnte sich die Bundesrepublik sogar eine Position in der Spitzengruppe sichern. Letzteres gilt auch für migrationswillige Start-up Gründer und Gründerinnen. Noch entscheidender bei Zuwandernden mit Unternehmergeist sind allerdings Änderungen bei den Zulassungsbestimmungen. Die Einführung eines Start-up-Visums könnte ein Signal setzen, um entsprechende Talente für Deutschland zu interessieren. Zuletzt rächen sich bei allen hochqualifizierten Zuwanderungsgruppen Versäumnisse bei der Digitalisierung – nicht nur bei der Visavergabe. Langsames Internet sinkt auch die Attraktivität Deutschlands zunehmend.
Über die Autoren:
Thomas Liebig ist leitender OECD-Ökonom in der Abteilung für Internationale Migration
Helen Ewald ist externe Beraterin der OECD in der Abteilung für Internationale Migration
Zum Weiterlesen:
Indicators of Talent Attractiveness. Themenseite zur gleichnamigen OECD-Untersuchung.
What is the best country for global talents in the OECD? OECD-Themenpapier (29. März 2023)
What are the top OECD destinations for start-up talents? OECD-Themenpapier (30. März 2023)
Deutschland fällt zurück im internationalen Wettbewerb um Top-Talente. Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung zur Veröffentlichung der OECD Indicators of Talent Attractiveness 2023 (9. März 2023)
Deutschland im internationalen Wettbewerb um Talente: Eine durchwachsene Bilanz. OECD-Themenpapier mit Empfehlungen für Deutschland basierend auf den OECD Indicators for Talent Attractiveness 2023 (9. März 2023)