Das BIP braucht Gesellschaft

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Die Politik muss über ihren Fokus auf das Bruttoinlandsprodukt hinauswachsen. Das hilft auch bei der Bewältigung der Pandemie.

Von Nicola Brandt, Leiterin des OECD Berlin Centre, und Lara Fleischer, Analystin im OECD Centre for Well-Being, Inclusion, Sustainability and Equal Opportunity

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf FAZ.net erschienen.

Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, misst alles – nur nicht das, was das Leben lebenswert macht, klagte schon Robert Kennedy vor mehr als 50 Jahren. Zigarettenwerbung und Notfallwageneinsätze schlagen sich positiv im BIP nieder und oft steigen Umwelt- und Luftverschmutzung, je mehr es wächst. Über Gesundheit und Bildung einer Gesellschaft, Schönheit von Kunst und Natur oder Freude und Lebenszufriedenheit der Menschen sagt es nichts.

Diese Kritik ist so alt wie das BIP selbst. Und doch bleibt es eine der geläufigsten Messgrößen, um den Wohlstand von Ländern zu vergleichen, die Tiefe von Krisen zu analysieren und die Dynamik von Volkswirtschaften zu messen. Dafür gibt es gute Gründe: Die Berechnung des BIP als Maß für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen innerhalb eines Quartals oder Jahres beruht auf einer international etablierten Methode und wird weltweit regelmäßig aktualisiert. Damit erlaubt es jederzeit aktuelle wirtschaftspolitische Analysen. Es steht in engem Zusammenhang zu wichtigen gesamtwirtschaftlichen Größen wie Beschäftigung und Steuereinnahmen.

Starkes BIP-Wachstum mag Ausdruck eines dynamischen Wirtschaftsgeschehens sein, doch es erhöht den Druck auf Umweltressourcen und das Klima.

Und doch würden auch viele Ökonominnen und Ökonomen, die sich nicht in erster Linie der Umwelt oder sozialen Fragen verschrieben haben, Robert Kennedys Kritik zustimmen. Starkes BIP-Wachstum mag Ausdruck eines dynamischen Wirtschaftsgeschehens sein, doch es erhöht den Druck auf Umweltressourcen und das Klima. Das Argument führen nicht nur Klimaaktivisten an, es ist längst im Zentrum der wirtschaftspolitischen Diskussion angekommen.

Viele Wohlstandsmaße, die Gesundheit, Bildungsstand und Lebenszufriedenheit abbilden, stehen in einem positiven Zusammenhang zum Pro-Kopf-Einkommen von Volkswirtschaften gemessen am BIP. Und doch übersieht man viel, wenn man nur das BIP betrachtet. Das Durchschnittseinkommen ist in vielen OECD-Ländern in den vergangenen Jahrzehnten zwar beinahe ungebrochen gewachsen. Profitiert haben aber in einer Reihe von Ländern in erster Linie die Reichsten. In den Vereinigten Staaten beispielsweise haben sich Einkommens- und Berufsaussichten besonders von weißen Männern ohne Hochschulabschluss seit den siebziger Jahren stark verschlechtert. Studien bringen diese Entwicklung in Zusammenhang mit einem dramatischen Anstieg von „Tod aus Verzweiflung“: Drogenkonsum und Selbstmord verkürzen das Leben in dieser Bevölkerungsgruppe oft drastisch. Der Effekt ist so stark, dass seit einigen Jahren auch die durchschnittliche Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten sinkt. Das durchbricht den sonst deutlich positiven Zusammenhang von Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens und Fortschritten bei der Lebenserwartung.

Das Ziel von Initiativen wie dem Better Life Index: Die Daten sollen abbilden, was den Menschen wirklich wichtig ist.

Fahrt aufgenommen haben Arbeiten zu erweiterten Indikatorensystemen, die Wohlfahrt und sozialen Fortschritt auf breiterer Basis messen, seit 2008. Von der Wirtschaftskrise und den zugrundeliegenden Fehlentwicklungen auf Immobilien- und Finanzmärkten überrascht, waren viele Wirtschaftspolitiker und Ökonomen damals bereit, ihre Analysen grundsätzlich zu überdenken. Nachdem eine Kommission unter den Wirtschaftsnobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen 2009 ihre Empfehlungen für eine breitere Wohlstandsmessung veröffentlicht hatten, folgten zahlreiche Länder und internationale Organisationen mit eigenen Initiativen. Daraus entstanden die Better Life-Initiative der OECD und die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Einer Reihe dieser Projekte, darunter auch „Gut Leben in Deutschland“, geführt vom Kanzleramt, liegt eine umfangreiche Bürgerbefragung zugrunde. Das Ziel: Die Daten sollen abbilden, was den Menschen wirklich wichtig ist. Die Messsysteme setzen unterschiedliche Akzente. Typischerweise beinhalten sie Daten zu Umweltqualität und Gesundheit, Armut und Ungleichheit, Geschlechtergerechtigkeit, Vertrauen, sozialen Beziehungen und politischem Engagement.

Trotz all dieser Bemühungen bleibt eine breite Wohlfahrtsmessung in den meisten Fällen ein Orchideenthema – auch in Deutschland. Kassenschlager in Medien und Öffentlichkeit sind weiterhin Konjunkturprognosen. Das liegt auch an der Handhabbarkeit und Verfügbarkeit der Daten. Eine Vielzahl komplexer Indikatoren ist schwieriger zu interpretieren als eine einzelne Maßzahl wie das BIP. Viele wichtige Indikatoren werden nur alle paar Jahre erhoben und eignen sich daher kaum zu aktueller Politikanalyse. Zeiterfassungsstudien etwa, die Aufschluss über die Balance von Arbeit und Freizeit geben und helfen, die Geschlechtergerechtigkeit bei der Verteilung der Sorgearbeit abzuschätzen, werden in vielen Ländern nur alle zehn Jahre erhoben.

Doch Hand aufs Herz: Es gibt auch tiefere Gründe. Wirtschaftspolitische Vorschläge, die Armut verringern oder Umweltergebnisse verbessern, dabei aber gleichzeitig Einbußen beim Wirtschaftswachstum mit sich bringen könnten, treffen in der Regel auf wenig Begeisterung. Lieber vermeidet man es, Zielkonflikte zu benennen, als sich einer Diskussion zu stellen, was wichtiger ist. Das gilt auch für Handlungsempfehlungen, die OECD-Länder untereinander diskutieren und gemeinsam verabschieden. Und das, obwohl die regelmäßig erscheinenden OECD-Länderberichte inzwischen verpflichtend mit einer umfassenden Wohlfahrtsanalyse auf Basis des Better Life Index einsteigen.

Das BIP mit anderen Wohlfahrtsindikatoren zu erweitern, ist keine einfache Aufgabe. Doch es lohnt sich, daran zu arbeiten.

Immerhin einige ambitionierte Ansätze gibt es, sich in der Wirtschaftspolitik nicht nur von möglichen Wirkungen auf das BIP leiten zu lassen. Frankreich, Italien und Schweden benutzen verschiedene Wohlfahrtsindikatoren als Grundlage für Haushaltsdiskussionen. Neuseeland geht mit seinem Wellbeing Budget noch weiter: Alle Ministerien müssen Haushaltsvorschläge mit Informationen zu ihren Wirkungen auf eine breite Palette von Wohlfahrtsindikatoren versehen. Die neuseeländische Regierung hat zusammen mit Wales, Island und Schottland eine Wellbeing Economy Alliance gebildet, um die Ansätze zu verfeinern. Grundsätzlich gilt: Nur Regierungen, die den Ehrgeiz gezeigt haben, breitere Wohlfahrtsmessungen verbindlich zur Basis politischer Diskussionen oder gar Entscheidungen zu machen, sind mit ihren Vorstößen bisher weitergekommen.

Das BIP mit anderen Wohlfahrtsindikatoren zu erweitern, ist keine einfache Aufgabe. Doch für die Herausforderungen, die vor uns liegen, lohnt es sich, weiter daran zu arbeiten. Wirksamer Klimaschutz erfordert eine weitreichende wirtschaftliche Transformation. Das bedarf in erster Linie einer qualitativen, nicht einer quantitativen Verbesserung des Wirtschaftswachstums. Und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die aktuelle Pandemie Auswirkungen auf Gesundheit, Wohlbefinden und gesellschaftlichen Zusammenhalt haben wird. Soziale Ungleichheiten drohen sich zu vertiefen, weil benachteiligte Gruppen nicht nur von der Viruserkrankung, sondern auch von den Eindämmungsmaßnahmen besonders betroffen sind. Psychische Gesundheit und soziale Beziehungen leiden im Lockdown. Ein verlässliches, mehrdimensionales Indikatoren- und Analysesystem aufbauen und im Blick behalten – das kann eine nachhaltige Erholung von Wirtschaft und Gesellschaft unterstützen.