Gut gerüstete Gesundheitssysteme: Was wir aus der COVID-19-Krise lernen können

Photo Credit: Olga Guryanova/UNSPLASH

Von Francesca Colombo, Leiterin der OECD-Gesundheitsabteilung

Ursprünglich auf Englisch erschienen im OECD Forum Network

Der rapide Anstieg der Zahl der Infizierten mit COVID-19, der durch das neuartige Virus SARS-CoV-2 ausgelösten Krankheit, lässt die Gesundheitssysteme weltweit an ihre Grenzen stoßen. Die Pandemie fordert zahlreiche Todesopfer und verursacht großes menschliches Leid. Außerdem ist sie eine Bedrohung für die Weltwirtschaft. Sie trifft die Schwächsten in unserer Gesellschaft am schwersten und wird zur Zerreißprobe für ein soziales Gefüge, das durch große Ungleichheiten ohnehin stark unter Druck steht.

Besonders gefährdet sind ältere Menschen und chronisch Kranke. Mehr als jeder Sechste ist im OECD-Durchschnitt über 65 Jahre alt. 60 Prozent davon leiden unter multiplen chronischen Erkrankungen. Italien, eines der am stärksten betroffenen Länder, hat im OECD-Raum nach Japan den zweithöchsten Anteil an über 80-Jährigen. Allein lebende ältere Menschen sind zusätzlich zur Ansteckungsgefahr noch Risiken der Isolation ausgesetzt. Unabhängig vom Alter ist bei zahlreichen Menschen mit erheblichen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zu rechnen.

In dieser beispiellosen Gesundheitskrise verstärken alle 36 OECD-Länder ihre Anstrengungen, um die Flut der Infektionen einzudämmen. Soziale Distanzierung, Maßnahmen zur Erkennung und Rückverfolgung neuer Infektionsfälle, verstärkte persönliche und Umgebungshygiene – all dies hilft, den riesigen Druck zu mindern, der auf den Gesundheitssystemen lastet. Diese Maßnahmen sind jedoch unterschiedlich wirkungsvoll. Ihr Gesamteffekt ist daher am größten, wenn sie zusammen umgesetzt werden.

Was haben die Gesundheitssysteme abgesehen von diesen Eindämmungsmaßnahmen bislang unternommen, um die Krise bewältigen? 

Einige Länder haben den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessert und damit deutlich gemacht, wie wichtig ein guter, universeller Krankenversicherungsschutz ist. In 23 OECD-Ländern verzichten gegenwärtig 20 Prozent der Bevölkerung wegen zu langer Wartezeiten oder Anfahrtswege auf notwendige medizinische Versorgung. Für 17 Prozent sind die Kosten zu hoch. Mit konkreten Maßnahmen wurde daher dafür gesorgt, dass die Kostenübernahme für COVID-19-Tests gesichert und ihr Preis reguliert ist, so z. B. in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Frankreich.

Um die personellen Kapazitäten im Gesundheitssektor zu erhöhen, greifen einige Länder auf Medizinstudierende zurück, die kurz vor dem Abschluss stehen. Zudem mobilisieren sie Apotheker und Pflegekräfte. Korea hat im Rahmen seiner Strategie zur Erhöhung der Testkapazitäten „Drive-through-Teststationen“ eingerichtet und damit große Anerkennung geerntet. Alle Länder haben Anstrengungen unternommen, um Verdachts- und bestätigte Fälle zu isolieren, teilweise auch durch mehr häusliche Hospitalisierung wie in den Vereinigten Staaten.

Auch innovative digitale Lösungen werden entwickelt. In Frankreich und den Vereinigten Staaten wurde der Zugang zur Telemedizin erleichtert. Israel nutzt Roboter und Telemedizin, um den Gesundheitszustand von Personen unter Quarantäne zu beobachten. In Korea werden Smartphone-Anwendungen getestet, mit denen unter Quarantäne stehende Personen über die Entwicklung ihres Zustands berichten können und die zugleich überwachen, ob sie sich an ihre Quarantäneauflagen halten. In Kanada wurden Initiativen im Bereich der künstlichen Intelligenz gestartet, um die Ausbreitung des Virus zu verfolgen und vorherzusagen, wo es als nächstes auftreten könnte.

Die COVID-19-Krise macht deutlich, dass unsere Gesundheitssysteme besser für Krisen solchen Ausmaßes gerüstet sein müssen. Es ist noch zu früh, um endgültige Schlüsse zu ziehen, drei Aspekte sollten jedoch auf jeden Fall berücksichtigt werden.

1. Die Krankheitsüberwachungs- und Gesundheitsinformationssysteme müssen verbessert werden.

Frühwarn- und Reaktionssysteme bieten die Möglichkeit, Warnungen auszusprechen und Krankheitsfälle zu melden. Ländern mit standardisierten nationalen elektronischen Patientenakten können sie zudem Routinedaten für die Echtzeitüberwachung von Krankheitsverläufen, für klinische Studien und für das Gesundheitsmanagement liefern. Bisher sind aber nur Finnland, Estland, Israel, Dänemark, Österreich, Kanada, die Slowakische Republik und das Vereinigte Königreich technisch und operationell in der Lage, entsprechende Informationen aus elektronischen Patientenakten zu generieren. Deshalb sind verstärkte Anstrengungen erforderlich, um technische und datenrechtliche Hindernisse für eine effektive Nutzung dieser Daten zu beseitigen. Der Datenschutz muss dabei allerdings im Einklang mit der Empfehlung des Rats der OECD zur Governance von Gesundheitsdaten gewährleistet bleiben.

2. Die Krise zeigt, dass Gesundheitssysteme anpassungsfähig sein müssen.

Fehlende Reservekapazitäten können dazu führen, dass Länder einem unerwarteten, starken Anstieg der Fallzahlen nicht gewachsen sind. Die Zahl der verfügbaren Krankenhausbetten und die Bettenauslastung variieren stark in den OECD-Ländern. In der Akutversorgung hat Japan die meisten Betten (fast 8 Betten je 1 000 Einwohner), gefolgt von Korea und Deutschland. Die Zahl der Intensivbetten variiert in ausgewählten OECD-Ländern um den Faktor 6. Der Aufbau von Reservekapazitäten in den Gesundheitssystemen erfordert kreative Ansätze. Dazu gehören u. a. „Reservearmeen“ von Gesundheitsfachkräften, die schnell mobilisiert werden können, Vorräte an Material, z. B. an persönlichen Schutzausrüstungen, sowie ausreichend Reservebetten, die schnell in der Akutversorgung eingesetzt werden können. 

3. Es bedarf einer stärkeren länderübergreifenden Koordinierung.

Neben einer Koordinierung der internationalen Maßnahmen zur raschen Eindämmung der Epidemie müssen wir die Entwicklung von Diagnostik, Medikamenten und Impfstoffen beschleunigen. Aktuell ist davon auszugehen, dass es mindestens 18 Monate dauern wird, bis ein Impfstoff für COVID-19 entwickelt ist. Die derzeit stark geförderten FuE-Anstrengungen müssen auch dann fortgeführt werden, wenn die Epidemie irgendwann abklingt, damit wir besser auf künftige Epidemien vorbereitet sind. Außerdem sind Schnellverfahren für die Zulassung neu entwickelter Medikamente und Impfstoffe erforderlich. Darüber hinaus muss sichergestellt werden, dass diese Produkte zu erschwinglichen Preisen dort verfügbar sind, wo der Bedarf am größten ist. Um es mit den Worten von OECD-Generalsekretär Angel Gurría zu sagen: Wir müssen deutlich verstärkt global handeln, um diese globale Krise zu bewältigen.

Über die Autorin:

Francesca Colombo leitet die Gesundheitsabteilung bei der OECD in Paris. In dieser Funktion verantwortet sie unter anderem die große OECD-Vergleichsstudie „Gesundheit auf einen Blick„.

Zum Weiterlesen:

Oderkirk, J. (2017), “Readiness of electronic health record systems to contribute to national health information and research”, OECD Health Working Papers, No. 99, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/9e296bf3-en

OECD (2019a), Health at a Glance 2019OECD Indicators, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/4dd50c09-en.

OECD (2019b), Health for Everyone? Social Inequalities in Health and Health Systems, OECD Health Policy Studies, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/3c8385d0-en.

OECD (2020a), “Flattening the COVID-19 peak: Containment and mitigation policies”, Fassung vom 24. März 2020, OECD, Paris, https://read.oecd-ilibrary.org/view/?ref=124_124999-yt5ggxirhc&title=Flattening_the_COVID-19_peak-Containment_and_mitigation_policies.

OECD (2020b), “Mehr als Eindämmung: Antworten der OECD-Gesundheitssysteme auf COVID-19“, Fassung vom 20. März 2020, OECD, Paris.