Europa muss jetzt den Ausweg aus der Pandemie-Rezession vorbereiten

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Die wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Krise sind enorm

Von Laurence Boone, OECD-Chefvolkswirtin, & Alvaro S. Pereira, OECD-Direktor der Abteilung Länderstudien

Ursprünglich auf Englisch erschienen in ECOSCOPE

Die Covid-19-Pandemie ist eine beispiellose Herausforderung. Die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus haben Teile der Wirtschaft zum Erliegen gebracht und stürzen uns in eine Rezession, wie es sie in dieser Form und diesem Ausmaß noch nie gab.

Im Angesicht der Krise haben die Staaten zunächst die Gesundheitsausgaben erhöht. Dann kamen wichtige fiskalische Schritte hinzu, um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern (z. B. Kurzarbeit, Ausweitung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld, Stundung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, neue Kreditlinien usw., vgl. OECD Policy tracker). In Europa hat die Europäische Zentralbank (EZB) ein umfangreiches Wertpapierankaufprogramm aufgelegt und darüber hinaus eine Reihe Sondermaßnahmen beschlossen. Die Europäische Kommission hat vorübergehend ihre Haushaltsregeln auf Eis gelegt und ihre Regeln für Staatshilfen gelockert.

„Die beispiellosen Maßnahmen und Konjunkturpakete werden in den meisten europäischen Ländern nicht ausreichen.“

Das Ausmaß der Krise aber ist so gewaltig, dass selbst diese beispiellosen Maßnahmen und Konjunkturpakete in den meisten europäischen Ländern nicht ausreichen werden. Denn die Pandemie wird einen erheblichen Anstieg der Verschuldung und verheerende Arbeitsplatzverluste mit sich bringen. Die Wirtschaftsleistung vieler Volkswirtschaften bricht OECDSchätzungen zufolge durch die  Lockdown-Maßnahmen, die das Virus eindämmen und Leben retten sollen, unmittelbar um geschätzt rd. 25 Prozent ein (siehe Grafik). Dies entspricht einem jährlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um rd. zwei Prozentpunkte für jeden Monat, in dem die Beschränkungen andauern. Dementsprechend wird sich die Wirtschaftsleistung 2020 wesentlich drastischer verringern als 2009.

Wir brauchen eine gemeinsame europäische Antwort auf die Krise

Wenn der Lockdown nach und nach aufgehoben wird, müssen die Politikverantwortlichen in Europa noch stärker als bisher dafür sorgen, dass sich die Märkte erholen, Massenarbeitslosigkeit ausbleibt und eine Insolvenzwelle verhindert wird. Die Herausforderung ist immens. In vielen Euroländern wird die Schuldenquote bei über 100 Prozent des BIP liegen – in einigen sogar deutlich darüber. Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten werden schwächer ausfallen. Die Erfahrung lehrt, dass Länder, die in der Erholungsphase investieren, anstatt zu schnell eine zu starke Konsolidierung einzuleiten, nicht nur den Aufschwung beschleunigen, sondern auch ihre Verschuldung schneller zurückführen können. Schauen wir auf 2010/2011: Damals schwächte eine übereilte fiskalische Straffung in einigen Ländern den gesamten Euroraum und fügte ihm bleibende Schäden zu. Dazu gehören die unvollendete Restrukturierung des Banken- und Unternehmenssektors, die höhere strukturelle Arbeitslosigkeit, schwache Investitionstätigkeit und niedrige Inflation, und auch die erlahmten Strukturreformen.

Positiv in dieser Krise ist das Eingreifen der EZB: Mit ihrer Zusicherung, im Rahmen ihres Mandats alles Notwendige zu tun, hat sie kraftvoll und wesentlich schneller reagiert als in der vorherigen Krise. Dadurch unterstützt sie die Bemühungen der Politikverantwortlichen und erkauft ihnen wertvolle Zeit, um eine tragfähige Reaktion auf diesen Schock zu entwickeln, der alle Länder gleichermaßen trifft.

Die Europäische Union arbeitet an einer mehrgliedrigen Strategie für die Bewältigung der Krise und die anschließende Erholung. Welche finanziellen Instrumente dafür eingesetzt werden sollen, wird jedoch noch diskutiert. Die Europäische Investitionsbank schlägt umfassende Hilfen für Unternehmen vor und die Europäische Kommission will die Arbeitslosenversicherung in den Mitgliedstaaten unterstützen. Hierüber scheint Einigkeit zu bestehen. Der Großteil der fiskalischen Maßnahmen, mit denen die Herkulesaufgabe der Erholung gestemmt werden soll, besteht jedoch in individuellen oder nationalen Initiativen. Anders als in der europäischen Schuldenkrise sind diesmal alle Länder von dem Schock betroffen.

Eine Einigung über eine gemeinsame Finanzierung der Krisenbewältigung wird durch die ungleiche Ausgangsposition der Eurogruppenländer kompliziert, für die sie im Wesentlichen selbst verantwortlich gemacht werden.  Möglicherweise ist ein Großteil der Bestandsschulden aus Vorkrisenzeiten tatsächlich von den einzelnen Ländern zu verantworten. Dies trifft jedoch nicht auf die Ausgaben für Gesundheits- und Konjunkturmaßnahmen im Zuge der Covid-19-Pandemie zu. Sowohl das Ausmaß der Pandemie als auch die starke Integration der EU-Staaten erfordern eine gemeinsame, großangelegte finanzielle Antwort auf die Krise. Diese sollte klar von den Bestandsschulden abgegrenzt werden, die es bereits vor der Covid-19-Krise gab.

Zwei Optionen für eine gemeinsame europäische Finanzierung der Krisenbekämpfung

Für eine wirkungsvolle Krisenreaktion ist es entscheidend, eine Brücke zwischen den verschiedenen diskutierten Optionen zu schlagen. Zwei Optionen könnten der EU die nötige Schlagkraft verleihen, um diese Krise zu überwinden: 1) ein neues Finanzinstrument, das die Eurogruppenländer gemeinsam emittieren würden, und 2) der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM).

Betrachten wir zunächst den ESM: Der ESM wurde von den Euroländern geschaffen, um Finanzmittel zu mobilisieren und Länder mit drohenden oder bestehenden gravierenden Finanzierungsproblemen zu unterstützen. Die Nutzung des ESM ist mit einer gründlichen Analyse der öffentlichen Schuldentragfähigkeit und strengen wirtschaftspolitischen Auflagen (Konditionalität) verbunden, da die Schwierigkeiten dieser Länder auf frühere politische Weichenstellungen zurückgeführt wurden, die eine schwache Konjunkturentwicklung bewirkt hatten. In der gegenwärtigen Krise gilt dies selbstverständlich nicht. Vor allem scheint die starke Konditionalität der finanziellen Unterstützung völlig unangemessen, wenn die Krise auf eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe zurückzuführen ist. Von einigen Seiten wird eine gelockerte Konditionalität vorgeschlagen. Dieser Ansatz ist aber möglicherweise für jene Länder nicht hinnehmbar, die der Meinung sind, dass strenge Konditionalität ein explizites Erfordernis für die Inanspruchnahme von ESM-Mitteln ist. Zudem scheinen die 410 Mrd. Euro an nicht ausgeschöpfter Kreditkapazität (3,4 Prozent des Euroraum-BIP für 2019) verhältnismäßig gering, wenn man den Bedarf im gesamten Euroraum zugrunde legt. Darüber hinaus sieht der ESM gegenwärtig kurzfristige Kredite mit einer anfänglichen Laufzeit von einem Jahr vor, die zweimal um jeweils sechs Monate verlängert werden können. Die Kreditlinien des ESM bieten daher nur eine begrenzte Absicherung und dienen eher zur Überbrückung vorübergehender Haushaltsnotlagen, bis eine mittel- bis langfristige Lösung gefunden ist. Um die Eurogruppenländer langfristig gegen Zinssteigerungsrisiken abzusichern, bedürfte es Krediten mit längerer Laufzeit.

„Für die EU ist die Krise auch eine Chance, ihre Rolle als Garant für gemeinsamen Wohlstand zu festigen.“

Aus all diesen Gründen ist der ESM in seiner gegenwärtigen Form nicht gut geeignet, um den Euroländern umfassende finanzielle Unterstützung bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bieten. Wenn der ESM eine tragende Rolle bei der Krisenbewältigung spielen soll, muss seine Schlagkraft deutlich gestärkt werden. Außerdem müssen die strengen Bedingungen, an die die Kredite geknüpft sind – zum Beispiel im Hinblick auf wirtschaftliche Reformen – spürbar gelockert und durch Vorgaben für die Mittelverwendung ersetzt werden (nämlich zur Finanzierung pandemiebedingter Ausgaben).

Eine Alternative wäre die Schaffung europäischer Finanzinstrumente, die es ermöglichen, einen Großteil der fiskalischen Kosten und der Krisenfinanzierung gemeinsam zu schultern. Konkret könnte die Auflegung einmaliger, zweckgebundener europäischer Schuldinstrumente zu einer relativ kostengünstigen Deckung des Finanzbedarfs für alle Euroländer und den Euroraum als Ganzes beitragen. Dies hätte den Vorteil, dass sich die nationale Verschuldung der einzelnen Staaten dadurch nicht unmittelbar erhöht, sofern die Finanzinstrumente entsprechend ausgestaltet werden. Für diesen Ansatz müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein:

  • Es müsste gewährleistet sein, dass es sich um ein einmaliges, zeitlich befristetes Finanzierungsinstrument handelt. Der einmalige Charakter des Instruments wäre glaubwürdiger, wenn für seine Rückzahlung über einen sehr langen Zeitraum zweckgebundene Steuern vorgesehen würden, wie etwa der Solidaritätszuschlag zur Finanzierung der Deutschen Einheit. Lange Laufzeiten sollten dafür sorgen, dass sich die Rückzahlung auf mehrere Generationen erstreckt und die Erholung nicht behindert.
  • Die Ausgaben dürften nur Covid-19-bedingte Aufwendungen für die Bewältigung der Gesundheitsrisiken und die Erholung von den Lockdown-Maßnahmen umfassen. Das Instrument würde von der Europäischen Kommission verwaltet und der Aufsicht durch das Europäische Parlament unterliegen.
  • Der supranationale Charakter der Schuldtitel würde es der EZB erlauben, bis zu 50 Prozent des Emissionsvolumens zu erwerben. Die fiskalischen Verpflichtungen der Euroländer wären an die Erholung gekoppelt.
  • Das Instrument würde den fiskalischen Spielraum von Ländern erhöhen, die stärker von hohen Kreditkosten betroffen sind, und die Erholung aller Länder beschleunigen.

Die außerordentliche Krise, in der sich Europa befindet, erfordert außerordentliche Maßnahmen. Sie ist aber auch eine einmalige Chance für die EU, und insbesondere die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, ihre Wirtschafts- und Finanzarchitektur zu konsolidieren und die Rolle Europas als Garant für gemeinsamen Wohlstand zu festigen. Mit einem deutlich gestärkten und umgestalteten ESM oder einem neuen, Finanzinstrument, das die Eurogruppenländer gemeinsam emittieren würden, wie vorstehend beschrieben, könnten den Worten auch Taten folgen. Die EZB hat den Politikverantwortlichen in der EU wertvolle Zeit erkauft. Diese Zeit muss jetzt genutzt werden, um einen gemeinsamen Ansatz zu entwickeln.