Fast jeder vierte junge Mensch in Deutschland hat eingewanderte Eltern oder wurde selbst im Ausland geboren. Die Statistik zeigt: Die Chancen dieser Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Bildungserfolg und Karriere liegen deutlich unter denen ihrer Altersgenossen. Grund ist neben struktureller und institutioneller Diskriminierung vor allem die Tatsache, dass sie überproportional oft aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen kommen und in benachteiligten Gegenden leben. Das wirkt sich häufig auf die Schullaufbahn und weiteren Lebenschancen aus.
Auf Basis der von der Stiftung Mercator geförderten OECD-Studie Making Integration Work: Young People with Migrant Parents haben wir am 16. Juni 2021 mit Integrationsexpert:innen diskutiert, welche Strategien sich hier und in anderen Ländern bewährt haben, um für mehr Chancengleichheit zu sorgen.
Präsentation:
Thomas Liebig | OECD-Migrationsexperte
Diskussion mit:
Muchtar Al Ghusain | Geschäftsbereichsleiter für Jugend, Bildung und Kultur der Stadt Essen
Galina Ortmann | Gründungsvorsitzende des Bundesverbandes Interkultureller Frauen in Deutschland und Mitglied des Vertreter:innenrates der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen
Kadim Tas | operativer Vorstand der JOBLINGE
Susanne von Below | designierte Leiterin des Bereichs Bildung, Arbeitsmarkt, Familie, Forschungskoordinierung im Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
Schlusswort:
Anna Dieterle | Projektmanagerin im Bereich Teilhabe und Zusammenhalt der Stiftung Mercator
Moderation:
Matthias Rumpf | Stv. Leiter des OECD Berlin Centre
Kernpunkte der Diskussion:
Der Bildungserfolg von Jugendlichen, die in Deutschland geboren wurden aber eingewanderte Eltern haben, liegt im Durchschnitt deutlich unter dem ihrer Altersgenossen mit in Deutschland geborenen Eltern. Bei der PISA-Studie zeigte sich ein Rückstand, der etwa einem Schuljahr entspricht. OECD-Daten machen ebenfalls deutlich, dass sich die Benachteiligung im Berufsleben fortsetzt. So existiert eine Beschäftigungslücke von fast 13 Prozentpunkten zwischen jenen, die eingewanderte Eltern haben und jenen, deren Eltern in Deutschland geboren wurden.
Früh anfangen:
Integrationspolitik sollte bereits frühkindlich greifen, damit sich Benachteiligungen nicht von den Eltern auf deren Nachkommen übertragen.
Weil Kinder aus Einwandererfamilien in Deutschland im Schnitt seltener Krippen, Kitas oder andere Einrichtungen der frühen Bildung besuchen, ist es sinnvoll, hier für eine höhere Bildungsbeteiligung zu werben. Ein gutes Beispiel gibt Finnland: Hier hat man durch gezielte Informationskampagnen das Wissen um die Bedeutung frühkindlicher Bildung erhöht und den Anteil von Kindern aus Einwandererfamilien in der frühen Bildung gesteigert.
Flexibel bleiben und individuell fördern:
Das deutsche Bildungssystem ist in seiner vielschichten Struktur für Eingewanderte oft schwer zu verstehen. Auch birgt die frühe Aufteilung in Schultypen, teils schon nach der vierten Klasse, das Risiko, das Kinder zu früh auf einen Bildungsweg festgelegt werden. Hier gibt es nach Ansicht der Expert:innen Reformbedarf, wobei eine Stärkung der frühkindlichen Bildung die negativen Effekte der frühen Aufteilung deutlich abmildern kann.
Viele Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten in der Schule oder auf dem Ausbildungsmarkt, haben das Gefühl, wie eine homogene Gruppe gesehen und behandelt zu werden, nicht als Individuen mit jeweils eigenen Erfahrungen und Potentialen. Initiativen wie die JOBLINGE motivieren, indem sie individuell fördern und den Jugendlichen zeigen, wo sie Talente haben und erfolgreich sein können.
Berufseinstieg erleichtern:
Damit Jugendliche, die Schwierigkeiten beim Berufseinstieg haben, nicht abgehängt werden, können breite Partnerschaften von Staat, Schulen und Arbeitgebern für Angebote sorgen, die in Ländern wie der Schweiz bereits sehr erfolgreich waren. In der Schweiz gibt es ein sogenanntes Motivationssemester, das Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz erlaubt, ein Brückenjahr mit Schnupperkursen zu nehmen. Wichtig für den Arbeitsmarktzugang ist auch, dass Praktika nicht an fehlender Vergütung oder Stipendien scheitern.
Vorbilder schaffen:
Wichtig sind auch Vorbilder – deshalb muss erfolgreiche Integration sichtbar gemacht werden.
Der öffentliche Sektor könnte auf dem Arbeitsmarkt eine Vorbildrolle einnehmen, aber auch hier sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland auch im internationalen Vergleich stark unterrepräsentiert, insbesondere in den höheren Laufbahnen. Länder wie Norwegen zeigen, wie man den Anteil von Nachkommen von Eingewanderten auch ohne umstrittene Quotenregelung erhöhen kann. So sind Personalabteilungen im öffentlichen Sektor Norwegens verpflichtet, gezielt auf Menschen aus Einwandererfamilien zuzugehen und sie zu Vorstellungsgesprächen einzuladen. In Neuseeland wiederum werden Beamte in Schulungen systematisch für Diversitätsfragen sensibilisiert. Was in Neuseeland zum System gehört, findet in Deutschland noch zu selten und unsystematisch statt. In Deutschland könnte außerdem helfen, die sprachliche Einstiegshürde herabzusetzen. Denn vielfach scheitern fachlich qualifizierte Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst daran, dass sie die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen – und bekommen so erst gar keine Einstiegschance.
Auch im Privatsektor kann kluge Integrationspolitik für mehr Erfolgsgeschichten sorgen. Flandern etwa ist ein gutes Beispiel für eine Region, in der vom Arbeitsamt entsandte Berater kleine und mittlere Unternehmen beim Aufbau und Erhalt einer diversifizierten Belegschaft unterstützen.
Mitschnitt der Veranstaltung:
Präsentation von Thomas Liebig zum Herunterladen
Zum Weiterlesen:
How can European countries improve the integration of youth with migrant parents? OECD-Kurzbericht (Mai 2021)
Making Integration Work – Young People with Migrant Parents. OECD-Studie (März 2021)
Kulturelle Diversität und Chancengleichheit in der Bundesverwaltung. Publikation zu den Ergebnissen der ersten gemeinsamen Beschäftigtenbefragung der Behörden und Einrichtungen im öffentlichen Dienst des Bundes (2020)
OECD-EU Indikatoren zur Integration von Jugendlichen mit eingewanderten Eltern (2019)
Catching Up? Intergenerational Mobility and Children of Immigrants. OECD-Studie (2017)
JOBLINGE. Initiative von Wirtschaft, Staat und Privatpersonen, die junge Menschen mit schwierigen beruflichen Startbedingungen unterstützt
Politfix. Projekt des Bundesverbandes Interkultureller Frauen in Deutschland zur Förderung von Frauen in der Kommunalpolitik und in politischen Gremien
Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen. Netzwerk von über sechzig Migrantenverbänden in Deutschland
Nationaler Integrationsplan der Bundesregierung. Überblicksseite der deutschen Bundesregierung