Von Pascal Saint-Amans, Direktor des OECD Centre for Tax Policy and Administration
Ursprünglich erschienen im ifo-Schnelldienst
Die Geschäftsmodelle der Unternehmen haben sich im Lauf der letzten hundert Jahre radikal verändert. Die Wertschöpfung multinationaler Unternehmen basiert heute häufig auf Marken und anderen »immateriellen Werten«, die sich leicht von Land zu Land verlagern, aber schwer besteuern lassen. Durch die Digitalisierung der Wirtschaft ist es Unternehmen – und zwar nicht nur Technologieunternehmen – möglich, in Ländern Gewinne zu erzielen, in denen sie keine physische Niederlassung und auch keine Mitarbeiter haben. Sie macht es ihnen auch leichter, einen Teil dieser Gewinne in Staaten zu verlagern, in denen sie nur eine geringfügige oder gar keine echte wirtschaftliche Tätigkeit ausüben.
Nach den aktuellen internationalen Besteuerungsregeln, die noch aus den 1920er Jahren stammen, kann ein Staat bei einem Unternehmen erst dann Steuern erheben, wenn dieses Unternehmen bei ihm über eine physische Präsenz verfügt. Daher ist es vielen Staaten heute nicht möglich, Einnahmen zu besteuern, die auf ihren Märkten erzielt werden. Ein erheblicher Teil der Gewinne multinationaler Unternehmen bleibt damit unversteuert. Inzwischen herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die aktuellen Regeln an den wirtschaftlichen Kontext des 21. Jahrhunderts angepasst werden müssen. Es muss gesichert sein, dass alle Unternehmen dort, wo sie tätig sind und ihre Gewinne erwirtschaften, auch einen Beitrag zum Steueraufkommen leisten – und dies gilt nicht nur für digitale Unternehmen.
Lösungsansätze für die steuerlichen Herausforderungen der Digitalisierung
Mit der Unterstützung der G 20 hat die OECD mehr als 135 Länder zusammengebracht, die im sogenannten Inclusive Framework on BEPS gleichberechtigt an der Aktualisierung der internationalen Steuerregeln für multinationale Unternehmen arbeiten. Nach Berechnungen der OECD aus dem Jahr 2015 entgehen den Staaten durch Steueroptimierungsstrategien multinationaler Unternehmen jährlich 100–240 Mrd. US-Dollar, was etwa 4–10 % des gesamten weltweiten Körperschaftsteueraufkommens entspricht (vgl. OECD 2015; Johansson et al. 2016). Um solchen Strategien der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (Base Erosion and Profit Shifting oder kurz BEPS) zu begegnen, wurde ein 15 Punkte zählender Aktionsplan ausgearbeitet. Ziel dieses zwischen 2012 und 2015 beschlossenen Plans, an dessen Umsetzung seitdem weltweit gearbeitet wird, ist es, die internationalen Steuerregeln kohärenter und das Steuerumfeld insgesamt transparenter zu machen.
Im BEPS-Aktionsplan wurde festgestellt, dass die Digitalisierung der Wirtschaft Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung erleichtert und zudem zur Entstehung grundsätzlicherer steuerlicher Herausforderungen geführt hat. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wo die Gewinne multinationaler Unternehmen besteuert werden sollten (»Nexusbzw. Anknüpfungsregeln«) und zu welchen Anteilen (»Gewinnzuweisungsregeln«). Mit dem BEPS-Projekt von 2015 wurde erfolgreich gegen viele Gewinnverlagerungsstrategien multinationaler Unternehmen vorgegangen, die grundsätzlichere Frage der Anknüpfungs- und Gewinnzuweisungsregeln blieb jedoch ungelöst. Da hier keine internationale Einigung erzielt wurde, begannen einige Länder in den letzten Jahren unilaterale Maßnahmen einzuführen. Damit wuchs das Risiko schädlicher Steuer- und Handelskonflikte.
Der Zwei-Säulen-Ansatz
Unter dem zunehmenden Druck der Öffentlichkeit beauftragte die G 20 2017 die OECD, die multilateralen Gespräche im Inclusive Framework wiederaufzunehmen. Die Länder verhandeln nun aktiv über eine konsensbasierte Lösung, die bis Ende 2020 vorliegen soll. Dabei stützen sie sich auf einen Zwei-Säulen-Ansatz, der Gegenstand mehrerer öffentlicher Konsultationen mit Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft war.
Ziel von Säule 1 ist es, den Marktstaaten (im Fall einiger Geschäftsmodelle sind dies die Staaten, in denen sich die Nutzer befinden) Besteuerungsrechte für Gewinne aus bestimmten, in den festgelegten Anwendungsbereich fallende Geschäftstätigkeiten zu geben. Die Unternehmen erhalten dafür im Gegenzug mehr steuerliche Rechtssicherheit. Dazu wird ein neues Besteuerungsrecht geschaffen, das weitgehend unabhängig von Kriterien der physischen Präsenz ist. Es betrifft in erster Linie große multinationale Konzerne, die automatisierte digitale Dienstleistungen und/oder Produkte bzw. Dienstleistungen für Verbraucher anbieten (»consumer facing businesses« bzw. »verbraucherorientierte Unternehmen«). Damit wird anerkannt, dass Gewinne, die ein Unternehmen durch eine dauerhafte, ortsungebundene Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen eines Marktstaats erzielt, in diesem Staat besteuert werden müssen. Um welchen Anteil der Gewinne es sich dabei handelt, würde anhand einer Formel bestimmt. Grundlage wäre der Konzernabschluss des multinationalen Unternehmens. Die aktuellen Verrechnungspreisleitlinien blieben davon unberührt.
Säule 2 (auch GLoBE-Vorschlag genannt, für Global Anti-Base Erosion) zielt mit einer globalen Mindestbesteuerung auf verbleibende BEPS-Risiken ab. Dabei geht es um Tax-Back-Regelungen, die es Staaten erlauben würden, selbst Steuern zu erheben, wenn andere Staaten ihr primäres Besteuerungsrecht nicht wahrgenommen haben oder der effektive Steuersatz auf eine bestimmte Zahlung aus anderen Gründen niedrig ist. Der GLoBE-Vorschlag beinhaltet vier Regeln: a) die Income Inclusion Rule, die eine Art Hinzurechnungsbesteuerung vorsieht; b) die Switch-over Rule (»Umschaltregel«); c) die Undertaxed Payment Rule zur Abzugsbegrenzung und d) die Subject-to-tax Rule zur Versagung von Abkommensvorteilen.
Analyse der Auswirkungen auf die Steuereinnahmen
Über die Einzelheiten der vorgeschlagenen Reformen wird im Inclusive Framework noch verhandelt, das OECD-Sekretariat hat aber bereits vorläufige wirtschaftliche Analysen vorgelegt, die anhand verschiedener vereinfachter Szenarien veranschaulichen, wie sich diese Reformen auf die Steuereinnahmen der Mitgliedsländer auswirken könnten. Diese Untersuchung, die auf einer Reihe von Annahmen u. a. zur Ausgestaltung der Vorschläge basiert, soll die Verhandlungen des Inclusive Framework erleichtern, ohne seinen Entscheidungen vorzugreifen.
Sie berücksichtigt Daten aus mehr als 200 Staaten und Gebieten, darunter sämtliche Mitglieder des Inclusive Framework, sowie über 27 000 multinationalen Konzernen. Dazu wurden neue Datenquellen wie das Analytical Activities of Multinational Enterprises Dataset der OECD sowie aggregierte, anonymisierte Daten aus der länderbezogenen Berichterstattung (Country-by-Country Reporting) herangezogen.
Die vorläufigen Ergebnisse der OECD deuten darauf hin, dass Säule 1 und 2 zusammen zu einem erheblichen Anstieg der weltweiten Steuereinnahmen sowie einer Umverteilung von Besteuerungsrechten hin zu den Marktstaaten führen würde.
‒ Säule 1 bewirkt, dass sich die Verteilung der Besteuerungsrechte auf die verschiedenen Staaten deutlich verändert, hätte aber auch einen kleinen Anstieg der Steuereinnahmen zur Folge, weil einige Besteuerungsrechte von Niedrig- auf Hochsteuerstaaten übergehen würden.
‒ Säule 2 würde zu einer erheblichen Zunahme der weltweiten Körperschaftsteuereinnahmen führen.
Multinationale Unternehmen in Digitalbranchen und anderen Wirtschaftszweigen, in denen immaterielle Werte eine wichtige Rolle spielen, wären von den Änderungen besonders stark betroffen – wie stark, dürfte allerdings davon abhängen, wie der Anwendungsbereich letztlich abgegrenzt und die Vorschläge ausgestaltet werden.
Volkswirtschaften der unteren und mittleren Einkommensgruppe würden durch Säule 1 im Schnitt gewinnen: Sie würden einen stärkeren prozentualen Anstieg ihrer Steuereinnahmen verzeichnen als Hocheinkommensländer. Größere Marktstaaten würden in absoluten Zahlen aber trotzdem stärker profitieren. Investitionshubs, d. h. Volkswirtschaften mit einem sehr hohen Anteil ausländischer Direktinvestitionen (über 150% des BIP), würden durch Säule 1 deutliche Einbußen verzeichnen, da dort von hohen Übergewinnen auszugehen ist.
Säule 2 dürfte den Analysen zufolge in allen Staaten und Gebieten zu einer Zunahme der Steuerbasis und der Steuereinnahmen führen. Dies wird aber stark davon abhängen, wie Säule 2 ausgestaltet wird und wie die multinationalen Unternehmen und die Staaten darauf reagieren. Letzteres lässt sich nur schwer genau vorhersagen.
Der Gesamteffekt von Säule 1 und 2 auf die Steuereinnahmen dürfte für Länder mit hohen, mittleren und niedrigen Einkommen weitgehend ähnlich sein.
Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit
Die OECD untersucht auch den Effekt der Vorschläge auf Investitionen und Wachstum. Dabei stützt sie sich auf das Standardmodell der vorausschauenden effektiven Steuersätze (vgl. Devereux und Griffith 2003; Hanappi 2018): Zur Schätzung der Auswirkungen auf die Investitionsanreize werden die effektiven Steuersätze für ein hypothetisches Investitionsprojekt vor und nach Umsetzung von Säule 1 und 2 verglichen. Die Ergebnisse dieses Vergleichs liefern Anhaltspunkte dafür, wie sich der Effekt der Besteuerung auf Investitionsumfang und -standort durch Säule 1 und 2 verändern dürfte. Welche Auswirkungen die Reformen insgesamt auf die Investitionstätigkeit haben könnten, hängt aber auch von anderen Faktoren ab, z.B. der steuerlichen Rechtssicherheit.
Säule 1 dürfte kaum nennenswerte Auswirkungen auf das globale Investitionsniveau haben. Säule 2 könnte für einige multinationale Unternehmen – vor allem solche, die Gewinne verlagern – zu einem Anstieg der effektiven Steuersätze führen. Beide Säulen würden das Gefälle zwischen den effektiven Steuersätzen reduzieren und für multinationale Unternehmen die Anreize zur Gewinnverlagerung verringern. Dies wäre vor allem für Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen von Vorteil, denen durch Gewinnverlagerungen häufig größere Einbußen entstehen. Außerdem könnte die Investitionstätigkeit dann stärker durch andere Faktoren beeinflusst werden, wie z.B. Infrastruktur, Bildungsniveau der Bevölkerung oder Arbeitskosten. In diesem Fall würden mehr Investitionen in Staaten fließen, in denen sie produktiver genutzt werden, was positive Auswirkungen auf das globale Wachstum hätte. Die Alternative zu einer konsensbasierten Lösung wären unkoordinierte, unilaterale Maßnahmen, mit deren Zunahme auch das Risiko weiterer Steuer- und Handelskonflikte steigen würde. Die Reformvorschläge würden demgegenüber zu mehr Steuersicherheit führen und das Investitionsumfeld insgesamt somit nicht beeinträchtigen.
Das OECD-Sekretariat wird die Ergebnisse dieser Analysen regelmäßig aktualisieren, wenn sich die Einzelheiten der Vorschläge in den Verhandlungen klarer herauskristallisieren.
Das weitere Vorgehen
Am 30. Januar 2020 einigte sich das Inclusive Framework auf die Eckpunkte für die Fortsetzung der Verhandlungen über die neuen Anknüpfungsund Gewinnzuweisungsregeln von Säule 1. Ziel ist es sicherzustellen, dass multinationale Unternehmen, die in einem Staat einer dauerhaften, wesentlichen Geschäftstätigkeit nachgehen – seien es Technologieunternehmen oder Unternehmen mit direktem Verbraucherkontakt –, einen Teil ihrer Gewinne in diesem Staat versteuern müssen, unabhängig davon, ob sie dort über eine physische Präsenz verfügen. Die Mitglieder beschlossen auch, die Diskussionen über Säule 2 fortzusetzen, um verbleibende BEPS-Risiken auszuräumen und eine Mindestbesteuerung multinationaler Unternehmen zu gewährleisten.
In verschiedenen Arbeitsgruppen der OECD wird derzeit an den technischen Aspekten des Zwei-Säulen-Ansatzes gefeilt. Beabsichtigt ist, bis zur nächsten Plenarsitzung des Inclusive Framework, die am 1. und 2. Juli in Berlin stattfinden wird, die Kernelemente der Lösungen für Säule 1 und 2 festzulegen, um dort zu einer politischen Einigung zu gelangen.
Über den Autor:
Pascal Saint-Amans ist Direktor des OECD Centre for Tax Policy and Administration. Er leitet die Arbeiten zur Modernisierung des internationalen Steuerrechts für multinationale Unternehmen.
Literatur:
Devereux, M. und R. Griffith (2003), »Evaluating Tax Policy for Location Decisions«, International Tax and Public Finance 10(2), 107–126.
Hanappi, T. (2018), »Corporate Effective Tax Rates: Model Description and Results from 36 OECD and Non-OECD Countries«, OECD Taxation Working Papers, No. 38, OECD Publishing, Paris.
Johansson, Å. et al. (2017), »Tax planning by multinational firms: Firm-level evidence from a cross-country database«, OECD Economics Department Working Papers, No. 1355, OECD Publishing, Paris.
OECD (2015), Measuring and Monitoring BEPS, Action 11 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, OECD Publishing, Paris.
OECD (2019), Programme of Work to Develop a Consensus Solution to the Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy Inclusive Framework on BEPS, OECD, Paris, verfügbar unter: https://www.oecd. org/tax/beps/programme-of-work-to-develop-a-consensus-solution-tothe-tax-challenges-arising-from-the-digitalisation-of-the-economy.pdf, aufgerufen am 30 Juli 2019. OECD
(2020), Statement by the OECD/G20 Inclusive Framework on BEPS on the Two-Pillar Approach to Address the Tax Challenges Arising from the Digitalisation of the Economy – January 2020, OECD/G20 Inclusive Framework on BEPS, OECD, Paris, verfügbar unter: www.oecd.org/tax/beps/statement-by-the-oecd-g20-inclusive-framework-on-beps-january-2020.pdf.
Zum Weiterlesen:
OECD on BEPS: 15 actions to equip governments with rules and instruments to address tax avoidance
OECD/G20 Inclusive Framework on BEPS: Progress Report July 2018-May 2019