Das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich

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Von Michael Müller, OECD-Gesundheitsexperte

Ursprünglich erschienen im Magazin Versicherungswirtschaft

Viele Aspekte des Gesundheitszustandes der Deutschen haben sich in den letzten Jahrzehnten stetig verbessert. So ist beispielsweise die Lebenserwartung bei Geburt seit 1970 um mehr als 10 Jahre gestiegen und bei den allermeisten Krebsdiagnosen haben sich die Überlebenschancen in den letzten 15 Jahren erhöht. Wie viele andere OECD-Staaten steht allerdings auch Deutschland vor der Herausforderung, die Finanzierbarkeit einer qualitativ hochwertigen und umfassenden Gesundheitsversorgung langfristig sicherzustellen. Nicht zuletzt, weil sich der demografische Wandel und der damit einhergehende Anstieg chronischer Erkrankungen bei gleichzeitig zu erwartendem Rückgang des Arbeitskräftepotenzials auf das System auswirken wird. Vor diesem Hintergrund soll dieser Beitrag helfen, die momentane „Performance“ des deutschen Gesundheitssystems international einzuordnen.

Unter allen OECD-Ländern geben die Deutschen besonders viel für Gesundheit aus. Im Jahr 2018 waren es 11,2 Prozent des BIP. Mehr wendeten nur die Vereinigten Staaten (16,9%) und die Schweiz (12,2%) auf. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der 36 OECD-Staaten liegt der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP bei 8,8 Prozent. Ein großer Teil dieser Ausgaben wird von staatlichen Programmen und öffentlichen oder privaten Pflichtversicherungen getragen. Diese Ausgabenträger finanzieren in Deutschland rund 84 Prozent aller Kosten, mehr als im Durchschnitt der OECD (74%). Die privaten Haushalte tragen 13 Prozent und damit weit weniger als im OECD-Schnitt von 21 Prozent. Auch der Finanzierungsanteil der freiwilligen privaten Krankenversicherung liegt mit 1 Prozent in Deutschland unter dem OECD-Schnitt von 4 Prozent.

Zu den Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens gehört die „Systemdualität“ zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung für „primären“, verpflichtenden Versicherungsschutz. Knapp 11 Prozent der deutschen Bevölkerung sind bei einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung vollversichert. Unter den OECD-Staaten hat nur Chile ein vergleichbares System, in dem sich Personen dafür entscheiden können, die gesetzliche (staatliche) Krankenversicherung zu verlassen und stattdessen einen Versicherungsvertrag bei einem privaten Versicherer abzuschließen. Als Zusatzversicherung zu Leistungen staatlicher Finanzierungssysteme spielen private Krankenversicherungen aber auch in vielen anderen Staaten eine Rolle. In Frankreich hat zum Beispiel fast die gesamte Bevölkerung (96%) zusätzlich zum staatlichen primären Versicherungsschutz noch eine „komplementäre“ Zusatzversicherung. Auch in Belgien und den Niederlanden ist der Bevölkerungsanteil mit Zusatzversicherung hoch (beide 84%). In Deutschland ist rund jeder Vierte zusätzlich versichert.

Wie gut ist der Systemzugang?

Der hohe Mitteleinsatz in Deutschland sorgt für einen außerordentlich guten Zugang zum Gesundheitssystem. So lassen Ergebnisse unterschiedlicher Studien zur Ermittlung des ungedeckten Behandlungsbedarfs darauf schließen, dass der Anteil der Deutschen, der auf medizinische Behandlung verzichtet, weil die Kosten zu hoch oder die Warte- oder Transportzeiten zu lang sind, im internationalen Vergleich relativ gering ist. Zu verdanken ist das unter anderem der hohen Verfügbarkeit humaner und physischer Ressourcen. So gibt es hierzulande deutlich mehr Gesundheitspersonal als in vielen anderen Ländern. Pro tausend Einwohner hatte Deutschland im Jahr 2017 20 Prozent mehr Ärzte (4,3 vs. 3,5) und 50 Prozent mehr Krankenpfleger (12,9 vs. 8,8) als der Durchschnitt der OECD-Staaten. Mit 8 Krankenhausbetten pro tausend Einwohner weist Deutschland zudem die höchsten Bettendichte innerhalb der EU auf, 70 Prozent über dem durchschnittlichen Versorgungsniveau in der OECD (Bild 1).

Diese vergleichsweisen hohen Durchschnittswerte sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Deutschland – wie in vielen anderen Ländern – regionale Versorgungsunterschiede gibt, vor allem im ambulanten Bereich. So ist die Ärztedichte in urbanen Zentren wie Hamburg (6,1) deutlich höher als in ländlichen Gegenden wie z.B. Brandenburg (3,6). Zudem verdeckt die relativ hohe allgemeine Ärztezahl in Deutschland die Tatsache, dass es vergleichsweise wenige Hausärzte gibt. Ihr Anteil an allen praktizierenden Ärzten liegt in Deutschland mit 17 Prozent unter dem Wert vieler Nachbarländer.

Die hohe Verfügbarkeit an Personal und Infrastruktur führt dazu, dass die Menschen hierzulande medizinische Leistungen auch häufiger in Anspruch nehmen. Die Deutschen haben wesentlich mehr Arztkontakte als der Durchschnitt der OECD-Länder: Abrechnungsdaten der GKV zufolge gehen sie fast 10 Mal pro Jahr zum Arzt (OECD: 6,8). Und mit 255 Fällen pro tausend Einwohner ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen sogar die höchste in der OECD. Zudem liegt die Zahl der elektiven Eingriffe wie Hüft- und Kniegelenkersatzoperationen weit über dem Durchschnitt. Während dies prinzipiell als Indikator einer guten Versorgungslage interpretiert werden kann, deuten die großen regionalen Unterschiede bei diversen elektiven Eingriffen, wie sie in internationalen und nationalen Studien nachgewiesen wurden, allerdings auch teilweise auf Fehlversorgung hin. Leider gibt es kaum international vergleichbare Daten zu den Wartezeiten für medizinische Behandlungen. Sie dürften in Deutschland aber vergleichsweise gering sein – sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Einer Studie des Commonwealth Funds von 2016 zufolge ist der Prozentsatz der Deutschen, der auf einen Termin beim Facharzt länger als einen Monat warten muss, mit 25 Prozent geringer als in den meisten anderen Industriestaaten (OECD, im Erscheinen). Allerdings zeigen nationale Studien, dass insbesondere bei Facharztbehandlungen GKV-Patienten tendenziell länger auf einen Termin warten müssen als PKV-Patienten.

Die finanzielle Abdeckung gegen die Kosten medizinischer Behandlung liegt in Deutschland über dem Niveau vieler anderer Staaten. Wie bereits erwähnt, liegt der Anteil der von den Patienten selbst zu tragenden direkten Kosten in Deutschland deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Daraus lässt sich schließen, dass der durch verpflichtende Versicherungssysteme wie der GKV und PKV finanzierte Leistungskatalog im internationalen Vergleich recht umfangreich ist. Anders als in einigen anderen OECD-Staaten sind die Kosten bei Zahnbehandlung und Zahnersatz zumindest teilweise abgedeckt. Auch bei Arzneimitteln scheint die Höhe der Eigenleistungen vergleichsweise gering zu sein.

Wie steht es um die Qualität?

Bei einer Analyse der Qualität der Versorgung in Deutschland ergibt sich ein gemischtes Bild. In der Akutversorgung liegt die Sterblichkeitsrate im Krankenhaus innerhalb von 30 Tagen nach Herzinfarkt bei 8,5 je 100 Fällen. Dies liegt über dem OECD-Durchschnitt (6,9) und deutlich über den Werten von Ländern wie Dänemark (3,2) oder den Niederlanden (3,5). Ein Grund dafür könnte sein, dass es in Deutschland viele kleine Krankenhäuser gibt, die nicht über ausreichend Personal und Ausstattung verfügen, um eine hohe Versorgungsqualität zu gewährleisten (OECD/European Observatory on Health Systems and Policies, 2019). Bei Schlaganfall liegt die Mortalitätsrate in Deutschland allerdings unter dem OECD-Durchschnitt (6,0 vs. 7,7). Auch bei Krebserkrankungen sind die Überlebenschancen in Deutschland im Allgemeinen besser als anderen OECD-Staaten. Ein Qualitätsindikator der Primärversorgung ist die Anzahl der Krankenhausfälle für chronische Erkrankungen wie Diabetes, Asthma/COPD oder Herzinsuffizienz. Bei guter ambulanter Versorgung bräuchte es zur Behandlung dieser Krankheiten prinzipiell keinen Krankenhausaufenthalt. Dennoch ist in Deutschland die Zahl der stationären Einweisungen für diese Erkrankungen überdurchschnittlich hoch. Bei Diabetes mag dies teilweise durch die höhere Prävalenz erklärt werden. Generell lassen die hohen Werte für Deutschland jedoch darauf schließen, dass die Primärversorgung noch gestärkt werden kann. Auch die starke Fragmentierung des  Gesundheitssystems, welche die Kontinuität der Versorgung erschwert, dürfte ein Grund für die hohe Zahl stationärer Behandlungen sein. Beim Vergleich der vermeidbaren Sterblichkeit liegt Deutschland im EU-Mittelfeld, sowohl bei den Todesfällen, die durch preventive Maßnahmen hätten vermieden werden können als auch bei den Todesfällen, die durch Behandlung hätten vermieden werden können. Diese Ziffern lagen in Deutschland bei 158 und 87 pro 100.000 Einwohnern, in beiden Fällen deutlich über einigen anderen europäischen Staaten, wie Frankreich, Italien oder Schweden (OECD/European Observatory on Health Systems and Policies, 2019). Bei der Lebenserwartung liegt Deutschland mit rund 81 Jahren etwas über dem OECD-Durchschnitt aber hinter den meisten anderen Staaten Westeuropas. In der Schweiz (83,6) und Spanien (83,4) ist die Lebenserwartung über zwei Jahre höher.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland sehr viele Ressourcen für Gesundheit aufwendet. Dafür erhalten die Deutschen einen sehr guten Systemzugang mit einem umfangreichen Leistungspaket und ein hohes Volumen an Gesundheitsleistungen. Die Indikatoren zur Messung der Versorgungsqualität liegen allerdings häufig nur im Mittelfeld der OECD-Staaten. Setzt man zum Beispiel die Ausgaben in Beziehung zu den durch Behandlung vermeidbaren Todesfällen so zeigt sich, dass andere Länder mit geringerem Mitteleinsatz bessere Ergebnisse erzielen (Bild 2).

Um den Herausforderungen erfolgreich entgegenzutreten, sollte sich Deutschland um mehr „Value for Money“ bemühen. Eine Stärkung der Primärversorgung könnte teure stationäre Krankenhausaufenthalte verhindern und die Versorgungsqualität erhöhen. Dafür sollten etwa die Ausbildungskapazitäten in der Allgemeinmedizin ausgeweitet aber auch neue, team-basierte Versorgungsmodelle entwickelt und erprobt werden, in denen das Pflegepersonal mehr Aufgaben bei der Behandlung der Patienten übernimmt. Gleichzeitig scheint das Potenzial, operative Eingriffe vermehrt ambulant durchzuführen, noch nicht ausgeschöpft. Eine stärkere Zentralisierung der Leistungserbringung in Krankenhäusern mit hohen Fallzahlen könnte zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität im stationären Sektor führen – eine größere Spezialisierung von Krankenhäusern würde dazu beitragen. Die hohe Prävalenz bei Risikofaktoren wie Adipositas und Alkoholkonsum zeigt, dass auch die Präventionsbemühungen in Deutschland noch intensiviert werden können.

Über den Autor:

Michael Müller ist Gesundheitsexperte bei der OECD in Paris und arbeitet unter anderem an der jährlich erscheinenden OECD-Studie „Gesundheit auf einen Blick„.

Quellen:

Bertelsmann-Stiftung/IGES (2017) Faktencheck Rücken- Rückenschmerzbedingte Krankenhausaufenthalte und operative Eingriffe. Gütersloh.

Kassenärztliche Bundesvereinigung (2018) Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 2018. Berlin.

OECD/European Observatory on Health Systems and Policies (2019) Deutschland: Länderprofil Gesundheit 2019, State of Health in the EU, OECD Publishing, Paris/European Observatory on Health Systems and Policies, Brussels.

OECD (2014), Geographic Variations in Health Care: What Do We Know and What Can Be Done to Improve Health System Performance?, OECD Health Policy Studies, OECD Publishing.

OECD, im Erscheinen, Waiting Time Policies for Health Services. OECD Health Working Paper. OECD Publishing. Paris.