„Obdachlosigkeit hat viele Gesichter“

Photo Credit: Ev on Unsplah

Ein Q&A mit OECD-Sozialökonom Willem Adema über Obdachlosen-Zahlen und bewährte Hilfsmaßnahmen

Wie viele Menschen sind in den OECD-Ländern obdachlos?

Das lässt sich leider nicht eindeutig beantworten, weil Obdachlosigkeit sehr schwer zu messen ist. Wir schätzen, dass in allen 36 OECD-Ländern und Brasilien zusammen etwa 1,9 Millionen Menschen obdachlos sind. Aber ich muss dazu sagen, dass dies eine sehr vorsichtige Schätzung ist. Es ist gut möglich, dass die tatsächliche Zahl viel höher liegt. Es werden viel zu wenige Daten gesammelt und die Definition von Obdachlosigkeit unterscheidet sich zwischen den Ländern teils erheblich. So gelten beispielsweise in Österreich oder Frankreich nur Menschen als obdachlos („homeless“), die auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen bzw. in Notunterkünften leben. Andernorts, wie in Kanada, Finnland oder Deutschland, werden auch Menschen hinzugezählt, die aus der Not heraus in Hotels oder bei Freunden leben.  

Ist Obdachlosigkeit ein wachsendes Problem?

Wir gehen davon aus, dass in etwa einem Drittel der OECD-Länder die Obdachlosenzahlen steigen, darunter in Australien, Großbritannien und Frankreich. In Deutschland und Österreich scheinen die Zahlen relativ stabil geblieben zu sein, für die Schweiz fehlen uns die Daten. Finnland und Norwegen gehören zu den Ländern, in denen die Obdachlosenzahlen deutlich zurückgehen.

Wer ist am stärksten von Obdachlosigkeit betroffen?

Bei Obdachlosen denken die meisten Menschen an Männer mittleren Alters, aber Obdachlosigkeit hat viele Gesichter und die Gruppe der Betroffenen wird immer heterogener. Zunehmend werden auch Frauen, Familien mit Kindern und Senioren obdachlos. In New York City etwa hat sich die Zahl obdachloser Senioren in den letzten zehn Jahren verdreifacht, in England hat sie sich in einem Zeitraum von acht Jahren verdoppelt. Irland registrierte 2018 viermal so viele Familien mit Kindern unter seinen Obdachlosen wie vier Jahre zuvor – ein Anstieg von etwa 400 auf über 1600 betroffene Haushalte. Hintergrund dieser Entwicklung ist oft Wohnraummangel und ein starker Anstieg der Mietpreise. Aber natürlich spielen auch individuelle Faktoren eine Rolle.

In Berlin schwärmten in der „Nacht der Solidarität“ am 29./30. Januar viele Freiwillige aus, um Obdachlose zu zählen. Das ist umstritten, auch bei den Betroffenen. Was kann man mit solchen Zählungen erreichen?

Solide Daten sind unerlässlich, um das Ausmaß des Problems zu verstehen und die richtigen Lösungen zu entwickeln. Mit Zählungen erfasst man leider nur einen kleinen Teil der Obdachlosen, nämlich diejenigen, die auf der Straße leben. Aber auch das ist hilfreich und bietet zudem eine Gelegenheit, mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen und zu verstehen, welche Hilfsangebote sie nutzen und wo es noch großen Bedarf gibt. Wir plädieren als OECD dafür, stärker als bisher auf systematische Datenerfassung zu setzen, beispielsweise über den Aufbau einer zentralisierten Datenbank, in die Behörden und Hilfseinrichtungen gleichermaßen ihre Zahlen und Beobachtungen einfließen lassen können.

Welche Strategien haben sich international bewährt, um Obdachlosen zu helfen?

Einerseits ist Prävention wichtig, das heißt gefährdete Menschen frühzeitig zu unterstützen, damit sie erst gar nicht obdachlos werden. Um Langzeitobdachlosen zu helfen, hat sich besonders der „Housing first“-Ansatz bewährt. Hier werden Betroffene schnell und unbefristet in einer Wohnung untergebracht und zusätzlich auf verschiedenen Ebenen professionell betreut. Es werden aber wie gesagt auch immer mehr Menschen temporär obdachlos – eine Entwicklung, die sich mit stärkeren Investitionen in bezahlbaren Wohnraum eindämmen ließe. Zusammenfassend kann man sagen: Hilfe muss auf verschiedenen Ebenen stattfinden und die Akteure müssen gut koordiniert sein. Ein positives Beispiel gibt uns Norwegen: Hier hat man konsequent auf eine Politik für erschwinglichen Wohnraum gesetzt und Räumungen reduziert. Die zuständigen Ministerien sind in engem Kontakt mit den lokalen Akteuren der Wohnpolitik. Auch Finnland ist ein Beispiel für erfolgreiche Obdachlosenpolitik. Seit 2010 setzt das Land auf langfristige Wohnlösungen für Obdachlose statt auf kurzfristige Unterbringung und hat damit die Obdachlosigkeit substanziell reduziert. Auch hier ist die Koordinierung der verschiedenen Akteure vorbildlich. Sobald eine Bürgerin oder ein Bürger mit dem Sozialsystem in Berührung kommt, achten die Behörden darauf, dass die Wohnsituation gesichert bleibt.

Weitere Informationen:

Better data and policies to fight homelessness in the OECD (PDF)

Nacht der Solidarität

OECD Affordable Housing Database

Under Pressure: The Squeezed Middle Class

Video zum Thema bezahlbarer Wohnraum: