„Dann kommt der Steuerkrieg“

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Wer darf Facebook und Co. besteuern? Darüber streiten die Staaten weltweit. Der Chefunterhändler Pascal Saint-Amans warnt vor einem Scheitern der Gespräche.

Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

FAZ: Herr Saint-Amans, 2020 soll die größte Reform der globalen Unternehmensbesteuerung seit einem Jahrhundert kommen. Und Sie sind der Mann, der dafür sorgen soll …

… Erinnern Sie mich bitte nicht daran, das ist etwas beängstigend. (lacht)

Sie sind oberster Steuerexperte des Industriestaatenverbunds OECD. Der schätzt, dass den Staaten rund um den Globus durch legale Steuertricks von Konzernen jedes Jahr Einnahmen von 240 Milliarden Dollar entgehen. Warum ist es so schwer, Großunternehmen zu besteuern?

Weil wir zwar eine Globalisierung der Wirtschaft erlebt haben in den vergangenen Jahrzehnten, aber keine Globalisierung der Besteuerung. Die Steuerordnungen auf der Welt wurden früher einmal für nationale Zwecke geschaffen, aber in Zeiten der Globalisierung hat das keinen Bestand mehr. Denn seit wir die Globalisierung haben, gibt es keine Grenzen mehr. Internationale Unternehmen sind dadurch in der Lage, den Ort, an dem sie Gewinne verbuchen, vom Ort ihrer wirtschaftlichen Aktivität zu entkoppeln. Hinzu kommt, dass immaterielle Vermögensgüter wie etwa Patente und Markenrechte immer wichtiger wurden, und auch die können leicht über Grenzen hinweg verschoben werden.

Die Steuersätze auf Unternehmensgewinne sind in den vergangenen Jahrzehnten stark gesunken. Ist internationaler Steuerwettbewerb eine gute Sache?

Einerseits ist es ziemlich gut für eine Volkswirtschaft, wenn Unternehmen nicht über die Maßen belastet werden. Unternehmensteuern wirken schließlich verzerrend. Sie zu begrenzen ist nicht schlecht. Andererseits ist der Steuerwettbewerb, den wir beobachten, durch eine unregulierte Globalisierung zu erklären. Die Staaten waren Getriebene, die ihre Steuersätze immer weiter gesenkt haben. Es geht übrigens nicht nur um die Steuersätze: Die Regierungen haben auch viele Ausnahmeregeln geschaffen, um ausländische Investitionen anzulocken. Es gab Steuergeschenke an Unternehmen, häufig im Verborgenen. Es wurden sehr viele Schlupflöcher geschaffen. Das alles führte dazu, dass die Global Player unter den Unternehmen Steuerzahlungen großteils vermeiden konnten. Also: Steuerwettbewerb ist nicht per se böse, aber die Art und Weise, wie er stattgefunden hat, war ziemlich schlecht. Er führte dazu, dass die effektive Steuerlast für manche nahe null lag.

Aber der Anteil der Unternehmensteuern an den gesamten Steuereinnahmen auf Welt ist in den vergangenen Jahrzehnten stabil geblieben. Widerlegt das nicht Ihre These?

Interessante Frage, die haben wir uns auch angeschaut: Wo ist das Problem, wenn der Anteil der Unternehmensteuern gar nicht gesunken ist? Tatsächlich aber hätte der Anteil steigen müssen, wenn man berücksichtigt, dass die Profitabilität der Unternehmen gewachsen ist. Unter Ökonomen ist das ziemlich Konsens.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beklagt, dass amerikanische Technologieunternehmen das Steuersystem austricksten und trotz hoher Gewinne keinen fairen Steuerbeitrag in Europa leisteten. Hat sie recht?

Diese Aussage ist richtig, aber sie bezieht sich auf eine sehr komplizierte Sache. Wir haben es nämlich hier mit zwei Problemen zu tun: Das eine sind die Steuerschlupflöcher, von denen wurden inzwischen viele geschlossen. Das zweite Problem aber ist: Selbst wenn man annimmt, dass alle Steuerschlupflöcher beseitigt sind – wie teilen die Staaten die Einnahmen aus der Unternehmensteuer untereinander auf? Nehmen wir Google als Beispiel: Das Unternehmen macht gewaltige Gewinne durch Geschäfte in verschiedenen Ländern. Die große Frage ist: Nach welchen Regeln werden diese Gewinne zwischen den Ländern aufgeteilt?

Das Problem ist also nicht mehr, dass multinationale Großkonzerne zu wenig Steuern zahlen. Es geht darum, wo sie diese entrichten?

Ganz genau. Früher, vor unseren Bemühungen und der amerikanischen Steuerreform, haben Technologieunternehmen nirgendwo Steuern bezahlt, jetzt bezahlen sie diese in den Vereinigten Staaten. Aber ist das angemessen?

Kommende Woche gehen die Verhandlungen in die nächste Runde. Werden sie, wie geplant, bis Jahresende abgeschlossen?

Ich weiß es nicht. Denn es geht hier um komplexe und fundamentale Dinge. Wir haben es mit 138 Ländern zu tun. Und es gibt außerdem ein großes politisches Interesse an diesem Thema, um es mal so zu nennen. Das macht es noch komplizierter. Deshalb war ich diese Woche in Davos und habe versucht, den Konflikt zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten zu lösen, damit wir unsere Arbeit machen können.

Sie klingen nicht besonders zuversichtlich.

Das Ganze ist sehr schwierig, aber machbar. Der Grund, warum wir etwas optimistisch sein sollten, ist: Scheitern ist keine Option. Wenn wir scheitern, dann wird die Weltordnung der Besteuerung zusammenbrechen. Alle Länder werden auf eigene Faust handeln, und das wird gar nicht gut sein.

Die geplante Reform ist furchtbar kompliziert. Lässt sie sich auch einfach erklären?

Wir haben ja gerade darüber gesprochen, dass das Problem die Aufteilung der Gewinne und damit auch der Steuereinnahmen zwischen den Ländern ist. Die Reform hat zwei Säulen. Die erste ist: Heute kann ein Land nur dann Steuern erheben, wenn ein Unternehmen dort physisch präsent ist, also dort Niederlassungen und Mitarbeiter hat. Wir wollen, dass ein Land in Zukunft auch dann Steuern bekommt, wenn ein Unternehmen dort physisch nicht präsent ist. Netflix zum Beispiel macht in Deutschland Geschäfte, hat dort aber keinerlei Mitarbeiter. Wir wollen Deutschland das Recht geben, Steuern von Netflix zu kassieren, obwohl das Unternehmen dort selbst nicht physisch präsent ist. Die Länder, in denen die Kunden sind, sollen ein größeres Stück vom Steuer-Kuchen abbekommen.

Und der zweite Teil?

Wir haben zwar viele Schlupflöcher geschlossen und es sehr viel schwerer gemacht, Gewinne in Steueroasen zu verschieben. Aber ganz unterbunden haben wir es noch nicht. Denn ein Teil der Gewinne wird immer noch an Orte verschoben, die ich freundlich ausgedrückt als Investment-Zentren bezeichnen würde: Irland, die Schweiz, Luxemburg, Singapur, die Niederlande und ein paar mehr. Diese Gewinne werden zwar dort verbucht, aber nicht unbedingt auch besteuert. Deshalb sollten wir eine Art Minimumsteuer einführen. Wie hoch dieser Steuersatz sein soll, das müssen wir noch entscheiden.

Frankreich sagt: 12,5 Prozent wäre ein guter Mindeststeuersatz. Stimmen Sie zu?

Das wurde bisher noch nicht diskutiert, auch wenn es dazu einige Ideen gibt. Allerdings: Irland nimmt 12,5 Prozent. In den Vereinigten Staaten liegt die Untergrenze bei 13,125 Prozent. Ich denke, 12,5 Prozent könnte ein sinnvoller Steuersatz sein, auf den man sich einigen könnte. Ich hoffe, dass wir im Juli auf einer Konferenz in Berlin eine Verständigung erzielen.

Was sind die größten Hindernisse für die Reform?

Das ist ein globales Problem, und deshalb brauchen wir eine globale Lösung. Wenn wir die finden wollen, dann können das nicht die sieben großen Industriestaaten, die G 7, allein entscheiden. Nicht einmal die G 20 der großen Volkswirtschaften. Das geht auch die Entwicklungsländer an. Und die haben eine andere Weltsicht. Diese verschiedenen Ansichten unter einen Hut zu bringen, das ist schwierig.

Manche sagen, die Entwicklungsländer sind im heutigen System die Verlierer. Stimmt das?

Die Entwicklungsländer leiden unter den derzeitigen Problemen jedenfalls mehr als die Industrieländer, weil sie stärker von den Einnahmen aus der Unternehmensteuer abhängig sind als die anderen.

Deutschland wird doch als großes Exportland auch zu den Verlierern zählen, wenn die Absatzländer einen größeren Teil der Steuern kriegen als bisher. Warum sollte der deutsche Finanzminister Olaf Scholz also Ihren Plan unterstützen?

Ein Land wie Deutschland ist nicht wirklich ein Verlierer, auch wenn das vielleicht zuerst einmal den Anschein hat, wegen des großen Exportüberschusses. Sie bekommen ja auch das Recht, ausländische Digitalunternehmen stärker zu besteuern, und verlieren nicht notwendigerweise hohe Einnahmen. Außerdem gibt es noch einen weiteren wichtigen Punkt: Die europäischen Länder sind durch die Digitalisierung jetzt in eine Situation gekommen, die die Entwicklungsländer seit Jahrzehnten haben. Letztere beschweren sich seit langem darüber, dass sie zu wenige Steuereinnahmen abbekommen. Jetzt aber erkennen die Europäer, dass es ihnen genauso geht, sie sind zu Entwicklungsländern geworden.

Das müssen Sie uns erklären.

Die europäischen Länder sind digitale Entwicklungsländer, weil sie viele digitale Dienstleistungen zum Beispiel aus den Vereinigten Staaten importieren, so wie die Entwicklungsländer bisher schon viele andere Waren aus dem Ausland. In Europa sagen jetzt viele: Das ist nicht fair, dass wir von den Steuerzahlungen der Digitalkonzerne so wenig abbekommen. Aber genau dasselbe sagen Regierungen in Asien und Lateinamerika seit Jahrzehnten. Deshalb brauchen wir im Interesse aller mehr Fairness im Steuersystem.

Wenn die Steuereinnahmen stärker an die Länder gehen sollen, in denen die Kunden sitzen, warum nutzen Sie dafür nicht einfach die bewährte Mehrwertsteuer, statt das ganze Unternehmensteuerregime auf den Kopf zu stellen?

Klar gibt’s die Mehrwertsteuer schon. Aber die wird auf den Konsum bezahlt und nicht auf den Gewinn der Unternehmen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge: Die Gewinnsteuer belastet das Kapital und die Konsumsteuer die Menschen. Beide Steuern sind nicht austauschbar. Sie ergänzen sich.

Was passiert, wenn dieses Jahr keine Einigung gelingt?

Dann bekommen wir einen Steuerkrieg, der wiederum einen Handelskrieg auslösen wird. Viele Regierungen werden dann nationale Sondersteuern auf Digitalunternehmen einführen. Insgesamt 40 Länder stehen in den Startblöcken und sind bereit, einseitig Maßnahmen zu ergreifen, wenn keine multilaterale Lösung erzielt wird: Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, die Türkei, Österreich, Australien, Neuseeland, Chile und viele weitere. Der Punkt ist: Wenn wir am Status quo in der Unternehmensbesteuerung nichts ändern, dann wird nicht alles so bleiben, wie es heute ist, sondern es wird richtig schlimm werden.

Über den Autor:

Pascal Saint-Amans ist Leiter der Steuerabteilung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Weitere Informationen:

BEPS-Projekt von OECD und G20