#Stadtgespräch 1: Verstädterungsprozesse in Europa und Afrika – was sie unterscheidet und verbindet

Photo: Shutterstock/Lucian Coman

Urbanisierungsprozesse gehören zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Überall auf der Welt steigt die Zahl der Menschen, die in Städten und Metropolregionen leben. Manche dieser Städte wachsen so schnell, dass sich ihre Bevölkerung in 15 Jahren verdoppeln wird. Mit dem rasanten Wachstum wächst der Druck, binnen kürzester Zeit eine Infrastruktur zu schaffen, die den Menschen einen echten Lebensraum bietet und nachhaltig ist – und zwar in sozialer wie klimapolitischer Sicht. Wie kann das gelingen?

In der gemeinsamen Reihe Stadtgespräche von OECD Berlin Centre, IHS Rotterdam und Cities Alliance gehen wir dieser Frage nach. Die Stadtgespräche sind eine Einladung zur kritischen Diskussion und zum kreativen Austausch über ein facettenreiches und hochdynamisches politisches Thema. 

In unserem ersten Stadtgespräch am 12. November 2020 haben wir über Urbanisierungsprozesse in Afrika und Europa gesprochen: was sie charakterisiert, was sie unterscheidet und wo es Potential gibt, sie gemeinsam zu gestalten.

Impulsvortrag:

Rüdiger Ahrend | Abteilungsleiter am OECD-Zentrum für Unternehmertum, KMU, Regionen und Städte

Kommentar:

Christoph Matschie | Mitglied des Bundestages (SPD)

Diskussion:

Alexander Jachnow | Leiter des Instituts für Urban Strategies and Planning am Institute of Housing and Urban Development Studies (IHS) an der Erasmus-Universität Rotterdam

Rene Peter Hohmann | Programmleiter bei der Cities Alliance

Moderation:

Nicola Brandt | Leiterin des OECD Berlin Centre


Mitschnitt der Veranstaltung:

Überall auf der Welt unterscheidet sich das Leben in Stadt und Land, in Afrika aber sind diese Unterschiede weit stärker ausgeprägt als in Europa, so Rüdiger Ahrend in seinem Vortrag. Während in Europa so gut wie niemand auf eine medizinische Behandlung verzichtet, weil der nächste Arzt zu weit weg ist, sei dies in Afrika ein verbreitetes Problem. Gravierend sei auch die auf dem Land oft schlechte Versorgung mit Trinkwasser und Elektrizität. Hier seien die Städte zwar im Vorteil, jedoch könne die Qualität ihrer Infrastruktur häufig mit dem Wachstum der Bevölkerung nicht Schritt halten. In vielen Städten mit hoher Bevölkerungsdichte gebe es keinen gut funktionierenden öffentlichen Nahverkehr.

Präsentation von Rüdiger Ahrend:

Warum geht das auch Europa etwas an? Für Christoph Matschie ist klar, dass die Entwicklungen auf Europas Nachbarkontinent globale Bedeutung haben. „In den nächsten dreißig Jahren wird wahrscheinlich mehr als ein Viertel der Menschheit in Afrika leben“, so Matschie. Es sei enorm, mit welcher Geschwindigkeit die Urbanisierung hier voranschreite – und zwar vielfach ohne jegliche strategische Planung. Die Bevölkerung habe durch die Agglomerationseffekte wenige Vorteile aber erhebliche Nachteile, wie Wohnungslosigkeit, fehlende berufliche Perspektiven oder hohe Lohnkosten. „Die Städte sind zunehmend soziale und politische Brennpunkte“, so Matschie. Und: Davon wie sie sich entwickeln werde abhängen, ob die Welt ihre Klimaziele erreichen könne. „All unsere Anstrengungen hierzulande werden uns nichts nützen, wenn die Urbanisierung in Afrika nicht in klimaverträglicher Art und Weise verläuft“, so Matschie. Ihm zufolge hat es Europa zu lange versäumt, die politische Dimension dieser Entwicklung zu begreifen, während Akteure wie China sich längst über ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in afrikanischen Ländern als gestalterische Macht etabliert haben.

Aus Sicht von Alexander Jachnow ist es für Europäer häufig schwer zu verstehen, wie anders Stadtentwicklung in Afrika verläuft als in Europa. In Afrika ging Urbanisierung nicht mit Industrialisierung einher – vielmehr haben die europäischen Kolonialmächte die Chance auf eine afrikanische Industrialisierung weitgehend im Keim erstickt, so Jachnow. Die Herausforderung sei nun, zu begreifen, dass man in Afrika eine andere Generation von Städten habe als in Europa, die außerdem ganz anders funktioniere. Trotz aller Unterschiede sollte man sich Jachnow zufolge als Partner zusammentun, um Knowhow zu bündeln und die Entwicklung nachhaltig zu gestalten.

Rene Peter Hohmann betonte die zentrale Bedeutung von Afrikas Klein- und Mittelstädten. Hier wachse die Bevölkerung besonders stark und hier sei man gleichzeitig infrastrukturell besonders schlecht aufgestellt. Das betreffe beispielsweise viele Orte an Afrikas Ost- und Westküste und am Viktoriasee – Städte, die auch besonders unter den Folgen des Klimawandels leiden. Aus Sicht von Hohmann ist es Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Debatte um Urbanisierung. Man müsse Entwicklungsplanung viel mehr an den vulnerablen Bevölkerungsgruppen in den Städten ausrichten, um zu verhindern, dass Exklusionsdynamiken und sozioökonomische Unterschiede weiter zunehmen. Und man müsse anerkennen, dass informelle Siedlungen wie Slums nicht verschwinden, sondern dass sie zur Normalität gehören – und entsprechend gestaltet werden müssen.

Aus dem Publikum meldete sich Luise Steinwachs zu Wort, die bei Brot für die Welt das Politik-Referat Grunddienste und Ernährungssicherheit leitet. Sie wies darauf hin, dass nachhaltige Urbanisierung Städte und das umliegende Land gleichermaßen betrifft. Ihr Beispiel: Nachhaltig ist Gewährleistung der Ernährungssicherheit für die Stadtbevölkerung durch Nahrungsmittel aus lokaler Produktion im angrenzenden ländlichen Raum. Häufig gehöre das Land aber internationalen Unternehmen, die einer Bewirtschaftung für Stadt und Region durch die lokale Landbevölkerung im Weg stehen. Notwendig sei daher der Zugang der lokalen Landwirtschaft zu den notwendigen Ressourcen wie Land und Wasser. Weil eine entsprechende systemische Sicht auf das Thema ihrer Meinung nach international wie auch in Deutschland zu kurz kommt, begrüßt Luise Steinwachs die von Christoph Matschie initiierte Anhörung zum Thema Urbanisierung in Afrika, die im Dezember im Bundestag stattfindet. In diesem Zusammenhang verwies sie auch darauf, dass es notwendig sei, die Kohärenz und Zusammenarbeit der einzelnen Bundesministerien bezogen auf Urbanisierung zu verbessern und dem Thema innerhalb des BMZ eine höhere Bedeutung beizumessen.

Aus ihrer eigenen Erfahrung berichtete die ägyptische Hochschullehrerin Manal El-Shahat, die zwischen Kairo und Stuttgart pendelt und eine Initiative gegründet hat, die informellen Siedlungen hilft, sich positiv zu entwickeln. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, eine Balance zwischen verschiedenen Herangehensweisen zu finden – eine Balance zwischen Bottom Up (Veränderung aus lokalen Gegebenheiten heraus) und Top Down (Veränderung aus politischen Entscheidungen heraus). Dazu gehöre auch, den Druck auf staatliche Stellen zu erhöhen, damit diese dort aktiv werden, wo Kommunen nicht in der Lage sind, wichtige Veränderungen umzusetzen. Darüber hinaus betonte Manal El-Shahat, wie wichtig internationale Städtepartnerschaften seien – wie beispielsweise zwischen Stuttgart und Kairo oder Aachen und Kapstadt. Es sollte besser herausgearbeitet werden, was diese Partnerschaften bereits an positiven Entwicklungen hervorgebracht haben und wie man sie mit Blick auf die Nachhaltigkeitsziele noch ausbauen und verbessern kann, und zwar in einer Weise, in der beide Seiten voneinander lernen und profitieren.

Die Kenianerin Dorcas Nthoki Nyamai, die Raumplanung an der TU Dortmund erforscht, wies auf zwei weitere Aspekte hin: Erstens bedarf es guter Governance, damit die Finanzen im Bereich von Stadtentwicklung nicht Korruption zum Opfer fallen. Zweitens sei wichtig zu beachten, dass die afrikanische Bevölkerung im Schnitt sehr jung und dynamisch sei. Sie brauche Chancen für Entfaltung und Unternehmertum, sei aber auch flexibel, sich auf alternative Wege einzulassen – etwa auf innovative, klimafreundlichere Verkehrskonzepte.


Zum Weiterlesen:

Cities in the World – A New Perspective on Urbanisation. Vollständige OECD-Studie auf Englisch (Juni 2020).

Städte der Welt – Eine neue Perspektive auf Urbanisierung. Deutschsprachige Zusammenfassung der englischen Studie. (August 2020)

Urbanisierung – Megatrend unseres Jahrhunderts. Beitrag von Luise Steinwachs auf dem Blog von Brot für die Welt. (Februar 2020)

Die Zukunft Afrikas entscheidet sich in den Städten. Beitrag von Christoph Matschie und Stefan Steinecke in der Fachzeitschrift Internationale Politik (November/Dezember 2019)