Lehrstellenmarkt und berufliche Bildung in und nach der Coronakrise

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Aufgrund der unsicheren Geschäftslage werden voraussichtlich zahlreiche Unternehmen zukünftig weniger Ausbildungsplätze anbieten oder weniger Absolvent*innen übernehmen. Viele Betriebe können ihre Auszubildenden auch nicht angemessen betreuuen. Der Unterricht auf Distanz ist häufig kein adäquater Ersatz für das Lernen vor Ort.

Wie stark lässt sich all das schon jetzt auf dem Lehrstellenmarkt und im Verhalten junger Schulabgänger*innen ablesen? Das Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat dazu aktuelle Daten aus einer Betriebsbefragung zusammengestellt. In einem Webinar am 22. Februar 2021 haben wir die Ergebnisse der Befragung diskutiert und mit Expert*innen aus Deutschland und der Schweiz erörtert, was den Lehrstellenmarkt langfristig stärkt.

Impulsvortrag:

Bernd Fitzenberger | Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg und Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg

Diskussion:

Friedrich Hubert Esser | Präsident des Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn
Elke Hannack | Stv. Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Berlin
Stefan Wolter | Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern

Moderation:

Nicola Brandt | Leiterin des OECD Berlin Centre


Regelmäßig befragt das IAB Betriebe zu ihrer Situation in der Krise. In den Antworten zeigt sich deutlich, so IAB-Direktor Bernd Fitzenberger, „dass die unsicheren Geschäftserwartungen die Betriebe zweimal nachdenken lassen, ob sie einen Ausbildungsplatz anbieten“. Gleichzeitig sehe man bei jungen Menschen die Tendenz, im schulischen System zu bleiben und ihre Berufswahl zu überdenken. Das drückt sich auch in den Zahlen aus: Im Vergleich zu 2019 haben sich im letzten Jahr 11,3 Prozent weniger junge Menschen für eine betriebliche Ausbildungsstelle beworben. Auch das Angebot ging zurück, insbesondere in krisengebeutelten Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe und bei Kosmetik- und Friseurbetrieben, aber auch im Handwerk. Insgesamt wurden 2020 elf Prozent weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen als in 2019. Und jeder zehnte befragte Betrieb hält es laut der IAB-Befragung „Betriebe in der Covid-19-Krise“ für möglich, krisenbedingt im kommenden Ausbildungsjahr weniger oder keine Ausbildungsplätze anzubieten.

So problematisch diese Auswirkungen auch sind: „Angesichts der Schwere der Krise hat sich der Ausbildungsmarkt als erstaunlich robust erwiesen“, so Bernd Fitzenberger. Sorge bereitet ihm jedoch insbesondere die Tatsache, dass junge Menschen, die wegen der Krise keine Ausbildung begonnen haben, auf der Strecke bleiben könnten. Zur Zeit der Finanzkrise 2008/09 habe man die Erfahrung gemacht, dass viele, die ohne Ausbildungsplatz geblieben waren, dies nie nachholen konnten. Das könne sich nun wiederholen. Und: Wer heute nicht ausgebildet wird, fehlt morgen dem Arbeitsmarkt als Fachkraft, so Fitzenberger.

Ergänzend unterstreicht Friedrich Hubert Esser, dass das Bundesinstitut für Berufsbildung schon vor der Krise von sinkenden Bewerberzahlen ausging. Corona habe diesen Rückgang dann noch verstärkt. Hintergrund ist aus seiner Sicht ein Bildungstrend hin zum Studium. Ein Studium genieße gesellschaftlich ein besseres Image und werde auch von vielen Familien als besonders erstrebenswert angesehen. Hinzu komme, dass den Jugendlichen in den Oberstufen und Abschlussklassen oft der Bezug zur Welt der Ausbildungsberufe fehle. Sie würden von ihren Lehrer*innen und Berufsberater*innen häufig völlig unzureichend mit Inhalten in Kontakt gebracht, die in Ausbildungsberufen eine Rolle spielen, so Esser.

Auch die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack plädiert für tiefgreifende Reformen. Einerseits müsse die Beratung verbessert werden, andererseits gehe es aber auch darum, an der Qualität der Ausbildungsgänge zu arbeiten. Da gebe es in Deutschland „eine riesige Bandbreite“. Helfen würden Ihrer Ansicht nach länderübergreifende Mindeststandards und eine stärkere Verknüpfung von Ausbildungs- und Tarifsystem. Eine Ausbildung sei nur attraktiv, wenn sie über die Ausbildungszeit hinaus gute Perspektiven bietet. „Niemand will im Niedriglohnbereich arbeiten, nicht in und nicht nach der Ausbildung“. Das deutsche System vermittle vielen jungen Menschen nicht die Aufstiegschancen, die sie sich wünschen. „Wir brauchen nicht nur den Gesellen und den Meister, sondern auch Stufen dazwischen“, so Hannack. Auch Friedrich Hubert Esser betont: Eine berufliche Qualifikation dürfe immer nur die nächste Etappe sein. Dafür aber brauche es „eine verbindliche Struktur lebenslangen Lernens“. Und die sei in Deutschland noch nicht ausreichend etabliert.

Anders in der Schweiz: Wie Stefan Wolter von der Universität Bern berichtet, hat man dort schon in den 1990er Jahren die Parole ausgegeben „Kein Abschluss ohne Anschluss!“. Das habe gewirkt. „Ohne die Aussicht, nach der Ausbildung in ein tertiäres Studium gehen zu können, hätten wir es sicher nicht geschafft, jährlich zwei Drittel der Schulabgänger für Ausbildungsberufe zu gewinnen“, so Wolter.  Und er gibt ein weiteres Beispiel für den Erfolg des Schweizer Ausbildungssystems: Nach einer schweren Krise in den 1990ern habe man das System so reformiert, dass Berufsorganistationen (OdA’s) nun verpflichtet sind, alle fünf Jahre ihre Berufsverordnungen zu erneuern. „Das ist natürlich aufwändig, trägt aber dazu bei, dass man nicht mit einem komplett veralteten System arbeitet“. Die Modernisierung ist auch auf der schulischen Seite sichtbar, mit dem Ergebnis, dass die Berufsfachschulen viel besser auf digitalen Fernunterricht vorbereitet waren als die meisten Gymnasien. Die Schweiz hat in der Pandemie keinen Einbruch bei den Lehrstellen erlebt und keine erhöhte Arbeitslosigkeit unter Absolventen. Alles in allem sei es auf dem Lehrstellenmarkt „ein erstaunlich gutes Jahr“ gewesen. Auch wenn die Situation nicht direkt mit der in Deutschland vergleichbar sei, weil der Ausbildungssektor in der Schweiz nie so konjunktursensitiv war wie in Deutschland, lohne sich eine Orientierung an den Reformmaßnahmen der Schweiz. Ein gesundes System komme auch besser durch die Krise.

Mitschnitt der Veranstaltung:

Präsentation von Bernd Fitzenberger:

Zum Weiterlesen:

Jeder zehnte ausbildungsberechtigte Betrieb könnte im kommenden Ausbildungsjahr krisenbedingt weniger Lehrstellen besetzen. Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (22. Februar 2021)

Corona-Krise: Folgen für den Arbeitsmarkt. Beitragsserie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (wird laufend erweitert)