Schulen zu, Kitas zu. Über Monate mussten Kinder während der Pandemie zu Hause bleiben. Die kurz- und langfristigen Folgen solcher Krisenmaßnahmen sind enorm. Es geht dabei längst nicht nur um Lerneinbußen, sondern um fehlende soziale Kontakte, um Auswirkungen auf Ernährung und Bewegung, um das Wohlbefinden und den Schutz von Kindern und Jugendlichen.
In einem Webinar am 23. Oktober 2020 haben wir diskutiert, was es für Kinder, Familien, Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, wenn Schulen und Betreuungseinrichtungen länger schließen. Und wie sich jetzt, in Zeiten steigender Infektionszahlen, der Schulbetrieb so lange und so sicher wie möglich aufrechterhalten lässt.
Impulsvortrag:
Andreas Schleicher | OECD-Bildungsdirektor
Diskussion:
Jutta Allmendinger | Präsidentin des WZB; Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt Universität, Berlin
Nicola Fuchs-Schündeln | Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität, Frankfurt am Main
Johannes Hübner | Professor für pädiatrische Infektiologie, Dr. von Hauner’sches Kinderspital, Ludwig-Maximilians-Universität München
Moderation:
Nicola Brandt | Leiterin des OECD Berlin Centre
„Kinder gehören zu den Gruppen, die vom Coronavirus am wenigsten betroffen sind, aber es gibt wohl keine Gruppe die von den politischen Antworten auf dieses Virus stärker getroffen wurde“, so Andreas Schleicher. Der digitale Unterricht sei wichtig gewesen, habe aber nur einen kleinen Teil dessen wettmachen können, was den Kindern durch die Schulschließungen verloren gegangen sei. Und das gelte ganz besonders für Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien. „Wir wissen aus der PISA-Studie: Kinder aus gut gestellten Familien in Deutschland können sich mit der Weltspitze messen. Solche Kinder können mit der Krise leben. Kinder aus sozial schwachen Familien, die haben kurz- und langfristig überproportional stark zu leiden“.
Die Präsentation von Andreas Schleicher:
Eine von der OECD mitherausgegebene empirische Studie wie auch eine Modellierungsstudie der Universität Frankfurt am Main gehen davon aus, dass die Schulschließungen mit massiven wirtschaftlichen Verlusten einhergeben. Die Einbußen im lebenslangen Einkommen der betroffenen Schülerinnen und Schüler könnten zwischen einem und drei Prozent betragen. Auch hier würden die Lasten wieder überproportional von den sozial Schwächeren getragen. Für Nicola Fuchs-Schündeln ergibt sich daraus die dringende Notwendigkeit, Schulen und Einrichtungen der frühkindlichen Bildung so lang wie möglich offen zu halten. „Gerade das, was man in ganz jungen Jahren verpasst, kann man später nur sehr schwer aufholen“.
Dem stimmten auch die anderen Experten und Expertinnen zu. Aus infektiologischer Sicht sei klar, so Johannes Hübner, dass Kinder nicht der Treiber der Pandemie sind. Das habe man anfangs anders eingeschätzt. Kinderinfektiologen hätten aber schnell erkannt und darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Pandemie anders verhalte als bei einer Grippe-Epidemie und dass die Öffnung der Schulen nach dem Lockdown nicht zu höheren Fallzahlen geführt hat. „Kinder sind in dieser Pandemie nicht das Problem“, so Hübner „sie haben aber besonders zu leiden“. Ihn beunruhige beispielsweise die Zunahme von Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen. „Wenn Schulen geschlossen werden, dann fehlt ein wichtiges Korrektiv“ – zum Beispiel weil Lehrkräfte Anzeichen für Kindesmisshandlungen nicht mehr erkennen können.
Aus Sicht von Jutta Allmendinger zeigt die Datenlage darüber hinaus noch viele weitere negative Nebeneffekte der Schulschließungen. „Sie wirken sich beispielsweise auf die Gesundheit aus“, so Allmendinger. Denn viele Kinder bekommen in Zeiten geschlossener Schulen kein ausgewogenes Essen. Ihnen fehlt Bewegung, weil der Schulsport, der Weg zur Schule und die Bewegung auf dem Schulhof wegfallen, und ihre motorischen Fähigkeiten entwickeln sich zurück. Auch ihre interaktiven Fähigkeiten leiden wenn der soziale Austausch aus dem Schul- oder Kita-Alltag wegfällt. Das betreffe „das Lernen von Selbstwertgefühl, den Abbau von Stereotypen, Erfahrungen von Teilhabe oder von Ausgrenzung“ und vieles Weitere. Durch die Schulschließungen und die Doppelbelastung der Eltern habe der Fernsehkonsum unter Kindern massiv zugenommen. Man müsse diese insgesamt sehr große und sehr vielgestaltige Dimension der Folgen von Schulschließungen anerkennen und politisch mitdenken, so Allmendinger.
Viele Zuhörerinnen und Zuhörer ergänzten die Diskussion durch eigene Hinweise auf Studien, Artikel und Hilfsangebote im Internet. Wir haben diese zusammen mit den im Webinar genannten Studien hier für Sie zusammengestellt.
Studien
The Economic Impacts of Learning Losses. Studie zu den ökonomischen Folgen von Unterrichtsausfall von Eric H. Hanushek und Ludger Woessmann. (September 2020)
The Long-Term Distributional and Welfare Effects of COVID-19 School Closures. Studie zu langfristigen Verteilungs- und Wohlfahrtseffekten von Schulschließungen von Nicola Fuchs-Schündeln, Dirk Krueger, Alexander Ludwig und Irina Popova. (August 2020)
The Short-Run Macro Implications of School and Childcare Closures. Studie zu kurzfristigen Wirkungen von Schulschließungen auf den Arbeitsmarkt von Nicola Fuchs-Schündeln, Moritz Kuhn und Michèle Tertilt. (Juni 2020)
Bilanz – Bestandsaufnahme und Evaluation von Maßnahmen zur Förderung bildungsbenachteiligter Schüler*innen des Zentrum für LehrerInnenbildung in der Corona-Krise. Studie der Universität Köln unter der Leitung von Ina Berninger. (Oktober 2020)
Lernen im Ausnahmezustand – Erste Ergebnisse. ZSI-Befragung von Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen in Wien. (Mai 2020)
An Evidence Summary of Paediatric COVID-19 Literature. Überblick über kindermedizinische Studien zu COVID-19 von Alison Boast, Alasdair Munro und Henry Goldstein
Journalistische Beiträge
Homeschooling ist gar nicht so schwer – zumindest in Finnland. ZEIT Online über digitales Lernen in Finnland. Elise Landschek, 24. September 2020
Die Nervosität in den Schulen steigt. Süddeutsche Zeitung Online über COVID-19-Lage in Deutschland und die Diskussionsergebnisse dieses Webinars. Susanne Klein, 26. Oktober 2020
Projekte & Angebote
Streetcollege. Alternativer Bildungsansatz für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen
Elternhotline. Ressourcen für Eltern zur Unterstützung ihrer Kinder in 14 Sprachen: FiBS ElternHotline gGmbH