„Die Coronakrise darf keine Integrationskrise werden!“

Picture Credit: David Rooney

Die Coronakrise hat das weltweite Migrationsgeschehen in beispielloser Weise verändert. In der ersten Jahreshälfte brach die Zahl neuer Visa und Aufenthaltsgenehmigungen in fast allen OECD-Ländern ein und es ist absehbar, dass die Mobilität noch lange nicht auf ihr ursprüngliches Niveau zurückkehren wird.

Der Internationale Migrationsausblick 2020 der OECD zeichnet diese Entwicklung nach und legt dabei den Blick besonders auf das Leben von Migrant*innen und ihre Kinder in der Pandemie. Denn sie sind in vielfacher Hinsicht von der Krise besonders betroffen. Viele Integrationsfortschritte der Vergangenheit drohen durch die Krise verloren zu gehen. Das haben wir in einem Webinar des OECD Berlin Centre am 19. Oktober 2020 mit unserem OECD-Migrationsexperten Thomas Liebig diskutiert.

„Wir sehen in diesem Jahr einen historischen Rückgang der Migration“, so Thomas Liebig. In Reaktion auf die Pandemie sei die Zahl der Visa und Aufenthaltsgenehmigungen im OECD-Raum im zweiten Quartal um über 70 Prozent eingebrochen – und es sei davon auszugehen, dass dies langfristige Folgen haben wird. Die Arbeitsnachfrage sei gesunken und es sei noch nicht absehbar, wie sich die Arbeitsmärkte von der Krise erholen. Gleichzeitig, so Liebig, „steigt der Wanderungsdruck in vielen Ländern außerhalb der OECD“. Es entstehe eine wachsende Kluft zwischen Migrationswünschen und den Möglichkeiten, tatsächlich in den OECD-Raum einzuwandern. „Daraus können sich Spannungen ergeben“, so Liebig.

Mit Blick auf die internationalen Studierenden und die Hochqualifizierten hingegen, könne sich eine neue Wettbewerbssituation zwischen den OECD-Ländern entwickeln. Teure Studienplätze an angesehenen Universitäten seien für Studierende aus Drittstaaten häufig nicht mehr attraktiv, wenn der Unterricht überwiegend online stattfinde. Dadurch verlören insbesondere privat finanzierte Universitäten, etwa im angelsächsischen Raum, wichtige Einnahmequellen und Möglichkeiten, Forschungskräfte an sich zu binden. „Durch die Möglichkeit des Online-Studiums werden die Karten in diesem Bereich ganz neu gemischt“, so Liebig.

Mit Blick auf diejenigen, die bereits als Zugewanderte in OECD-Ländern leben sagte Liebig: „Besonders schwer ist es für die Neuzugewanderten, insbesondere die Flüchtlinge.“ Zugewanderte leben häufiger in beengten Wohnverhältnissen und dicht besiedelten Wohnvierteln mit hohem Infektionsrisiko. Neuzugewanderte haben häufig noch nicht nachhaltig auf dem Arbeitsmarkt Fuß gefasst und sind besonders von Entlassungen bedroht. Ihr Zugang zur gesundheitlichen Versorgung sei oft de facto eingeschränkt, teils auch aus mangelndem Wissen über das System. Und es fehlten ihnen Unterstützungsnetzwerke vor Ort.

Was die Neuzugewanderten besonders betrifft, gilt im Durchschnitt auch für Migrant*innen allgemein, auch für diejenigen, die schon länger im Land leben. „Studien aus verschiedenen OECD-Ländern deuten darauf hin, dass Zugewanderte ein zwei bis drei Mal so hohes Infektionsrisiko haben, wie im Inland geborene“, so Liebig. Die Dunkelziffer sei möglicherweise noch höher.

„Migrantinnen und Migranten stehen in der Coronakrise häufig an vorderster Front“, so Liebig. Sie arbeiten überproportional häufig in Berufen, die gerne als „systemrelevant“ bezeichnet werden – etwa im Gesundheitssystem, im Einzelhandel und in der Ernte. Damit steige das Infektionsrisiko. Gleichzeitig arbeiten viele in besonders krisengeplagten Branchen wie der Gastronomie, die keine Möglichkeit bieten, aufs Homeoffice umzusteigen. Und Studien zeigen, so Liebig, dass in Krisenzeiten die Diskriminierung von Migrant*innen auf dem Arbeitsmarkt zunehme. Dadurch seien Migrant*innen besonders von Kündigungen bedroht.

Die Kinder von Migrant*innen hätten ebenfalls überproportional unter der Pandemie zu leiden. Ein Beispiel dafür seien die Schulschließungen: „Wenn der Unterricht nach Hause verlagert wird, fehlt vielen Kindern aus Migrantenfamilien ein Großteil ihres Umgangs mit der deutschen Sprache“, so Liebig. In Deutschland beispielsweise werde in 85 Prozent der Familien von Kindern, die im Ausland geboren wurden, zuhause kein Deutsch gesprochen. „Das ist nicht verwunderlich, aber ein struktureller Nachteil, wenn die Kinder nicht mehr in die Schule gehen können“. Hier gehe es nicht nur um kurzfristige Lerneinbußen in einem kritischen Alter, so Liebig, sondern auch um die Gefahr, dass sich Kinder und Jugendliche vom Schulsystem loslösen. So weisen erste Zahlen aus Frankreich und den Niederlanden darauf hin, dass auffällig viele Schulkinder aus Migrantenfamilien in diesem Jahr nach den Ferien nicht mehr in der Schule erschienen. „Das macht uns Sorgen und muss sehr genau beobachtet werden“, so Liebig.

Insgesamt müssten die Länder aktiv werden, damit die Integrationsfortschritte der Vergangenheit nicht von der Pandemie zunichtegemacht werden. Dafür sei es wichtig, die derzeitigen Entwicklungen noch viel genauer zu beobachten und zu dokumentieren, um effektiv einschreiten zu können. Wichtig sei aber auch, dass gesamtgesellschaftlich größere Aufmerksamkeit für die Lage von Migrant*innen geschaffen wird – und mehr. „Wir sollten die Leistung von Migrant*innen stärker würdigen“, so Liebig. Dazu gehöre einerseits, dass wir uns hierzulande um ein respektvolleres Vokabular bemühen und beispielsweise auch die bereits länger in Deutschland lebenden Einwanderer als „Einheimische“ bezeichnen. Es gehöre aber auch dazu, dass die Politik mehr in Integrationsprogramme investiere, beispielsweise Mentorenprogramme ausbaue, und den öffentlichen Sektor stärker als Vorbild in die Pflicht nehme. Wenn Migrant*innen es leichter hätten, in allen gesellschaftlichen Bereichen – gerade auch in der öffentlichen Verwaltung – Fuß zu fassen, zu arbeiten und Leistung zu erbringen, dann fördere dies auch den Respekt und die Anerkennung und sei ein Ansporn für andere Zugewanderte.


Die Präsentation von Thomas Liebig:

Zum Weiterlesen:

OECD International Migration Outlook 2020. OECD-Studie (Oktober 2020)

What is the impact of the COVID-19 pandemic on immigrants and their children? OECD-Themenpapier (Oktober 2020)