Dieser Kommentar ist ursprünglich im Tagesspiegel erschienen.
Von Thomas Liebig, OECD-Migrationsexperte, und Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen der HU Berlin. Beide Autoren sind Mitglieder der Fachkommission Integrationsfähigkeit der Bundesregierung.
Sprachlich und statistisch ist der in Deutschland verwendete Begriff überholt. Warum wir einen Neuanfang brauchen.
Der Begriff Migrationshintergrund muss abgeschafft werden. Das ist eine der Kernforderungen des Berichts zu „Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit“ – und auch eines der Themen, über die besonders intensiv diskutiert wurde.
Das mag auf den ersten Blick überraschen, aber es sprechen eine ganze Reihe von Gründen dafür.
Denn der Begriff vermischt unterschiedliche Kategorien, wird von vielen Betroffenen abgelehnt und ist als statistisches Konzept international weitgehend ein Solitär.
Die aktuell gültige Definition des Statistischen Bundesamts besagt, dass Menschen einen Migrationshintergrund haben, «wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen».
Einwanderer und ihre Nachkommen sind zwei verschiedene Kategorien
Damit umfasst er sowohl Personen, die selbst eingewandert sind, als auch ihre Nachkommen. Während erstere durch den Geburtsort im Ausland und ihre eigenen Migrationserfahrungen häufig Schwierigkeiten haben, sich in dem anderen Arbeitsmarkt- und Bildungssystem und der anderen Gesellschaft zurechtzufinden, sind letztere in Deutschland geboren und aufgewachsen.
Diese beiden Gruppen verfügen also über sehr unterschiedliche Ausgangslagen für Integration. Besonders fragwürdig ist der Bezug zur Staatsbürgerschaft bei Geburt.
Während sich Flüchtlinge aufgrund der mangelnden Rückkehrperspektive häufig rasch einbürgern lassen, haben EU-Bürger aufgrund der Personenfreizügigkeit wenig Anreiz dazu. Die Nachkommen von ersteren haben nach der aktuellen Definition dann keinen «Migrationshintergrund», die Nachkommen von letzteren aber schon.
Der Begriff wird aber auch von vielen Betroffenen abgelehnt
Denn er suggeriert, dass auch in Deutschland geborene Nachkommen von Eingewanderten noch durch die Migration der Eltern auf Dauer geprägt sind. Damit wird der «Migrationshintergrund» zu einem «Migrationsvordergrund», wie auch die Integrationsbeauftragte feststellte.
Besonders problematisch wird es übrigens, wenn – wie häufig der Fall – der Bevölkerung «mit Migrationshintergrund» die «Einheimischen» gegenübergestellt werden. Dabei ist es doch gerade ein Ziel des Integrationsprozesses, dass eingewanderte Personen hier im Wortsinne «heimisch» werden und sich auch so fühlen.
Problematisch ist auch, dass der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch eingezogen ist und oft mit «Integrationsproblemen» oder zumindest besonderem Unterstützungsbedarf gleichgesetzt wird. Besondere Unterstützung sollte aber vom tatsächlichen Bedarf abhängig gemacht werden, der anhand von objektiven Indikatoren (beispielsweise Sprachtests) bestimmt werden sollte.
Der Begriff als statistisches Konzept ist international nicht anschlussfähig
Er basiert auf der Staatsbürgerschaft bei Geburt und ist damit durch das Staatsbürgerschaftsrecht geprägt. Dieses Recht ist aber veränderlich, und damit auch die statistische Erfassung der Bevölkerung «mit Migrationshintergrund».
Das erschwert nicht nur Vergleiche über die Zeit. Da das Staatsbürgerschaftsrecht international stark variiert, erschwert es zudem zwischenstaatliche Vergleiche. Die meisten OECD-Länder basieren ihre Statistiken nicht mehr auf der Nationalität, sondern auf dem Geburtsland der Person oder der Eltern.
In klassischen Einwanderungsländern wie Kanada – in denen Einwanderer nach wenigen Jahren die Staatsbürgerschaft erwerben – spricht man bei ihren im Land geborenen Nachkommen übrigens von «second generation Canadians». Im Gegensatz zum in Deutschland noch häufig verwendeten «Migranten zweiter Generation» setzt man in Kanada damit auch in der Wortwahl ein klares Zugehörigkeitssignal.
Der Ersatzbegriff für die zweite Generation wäre „Nachkommen von Einwanderern“
Den Migrationshintergrund werden also wohl weder Wissenschaft noch die Betroffenen vermissen. Doch durch welchen Begriff soll man ihn ersetzen? Als Sammelbegriff am besten gar nicht.
Aufgrund der wie erwähnt unterschiedlichen Ausgangslagen ist es in der Regel nicht sinnvoll, beide Gruppen – die im Ausland geborene Personen und deren direkte und in Deutschland geborene Nachkommen – zusammen zu betrachten.
Und wenn nur die letzteren gemeint sind, dann sollte man von «Nachkommen von Einwanderern» sprechen und eben nicht «zweite Generation Migranten». Denn der Migrationsstatus ist nicht erblich.
«Erblich» im weitesten Sinne können aber leider durchaus Benachteiligungen sein, die mit Einwanderung häufig verbunden sind.
Dies ist vor allem dann der Fall, wenn beide Elternteile im Ausland geboren sind und nur wenig Deutsch sprechen. In diesen Familien ist die Erfahrung mit dem deutschen Bildungssystem eingeschränkt und die Unterstützung der Kinder durch Sprachhürden oft erschwert. Ist dagegen nur ein Elternteil im Ausland und das andere in Deutschland geboren und hier aufgewachsen, bestehen diese Schwierigkeiten nicht oder nur in deutlich geringerem Maße; dies zeigt sich auch bei der Arbeitsmarktintegration.
Und auch sonst spricht wenig dafür, Kinder mit nur einem eingewanderten Elternteil als Nachkommen von Einwanderern zu bezeichnen.
Benachteiligungen dürfen nicht vererbt werden
Bezeichnungen sind wichtig und sollten an sich verändernde gesellschaftliche Realitäten und Anforderungen angepasst werden. Aber die Einführung anderer Begriffe allein wird gesellschaftliche Realität nicht verändern. Entscheidend ist letztlich, welche Anstrengungen wir gemeinsam unternehmen, damit Integration gelingt.
Entsprechend ist die wohl wichtigste Botschaft der Fachkommission, dass Integration eine Daueraufgabe ist, die alle betrifft und an der sich alle beteiligen müssen – der Staat ebenso wie die Zivilgesellschaft, Eingewanderte und deren Nachkommen ebenso wie die übrige Bevölkerung.
Zu vermeiden, dass die mit Geburt im Ausland häufig verbundenen Benachteiligungen «vererbt» werden, ist folglich Aufgabe von uns allen – damit der Migrantenstatus der Eltern bei den Nachkommen von Einwanderern nicht nur begrifflich, sondern auch tatsächlich in den «Hintergrund» verschwindet.