Die Kosten für die Kinder sind zu hoch

Photo Credit: Shutterstock/Anna Nahabed

Von Nicola Brandt, Johannes Hübner und Andreas Schleicher

Ursprünglich erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Schon seit vielen Wochen sind Schulen und Kitas in Deutschland weitgehend geschlossen. Die Kinder leiden, ihre Bildungschancen sinken. Viele OECD-Länder gehen daher längst andere Wege.

Der Lockdown in Deutschland soll diese Woche in die Verlängerung gehen. Über kaum ein Thema wird dabei so heftig gestritten wie über die Rolle von Kitas und Schulen. Kein Wunder – für die Jüngsten steht viel auf dem Spiel. Die ursprünglich als verlängerte Weihnachtsferien gedachten Einschränkungen im Bildungs- und Betreuungsbetrieb gehen bald in die zehnte Woche. Da lohnt sich ein Blick auf andere OECD-Länder.

Großbritannien, Dänemark, Niederlande, Irland, Portugal und Polen etwa haben unter dem Eindruck besonders dynamischer Infektionswellen im Winter Schulen und Kitas abermals weitgehend für den Regelbetrieb geschlossen. In all diesen Fällen entwickelten sich die gemeldeten Neuansteckungsraten zum Zeitpunkt der Schließung allerdings dynamischer und befanden sich auf einem deutlich höheren Niveau als in Deutschland. Dänemark und Polen haben zuletzt Grundschulen und Kitas wieder geöffnet. Insbesondere für die Kleinsten gilt, dass die Kosten eines eingeschränkten Bildungsbetriebs den möglichen Nutzen deutlich übersteigen, darüber sind sich Bildungsexperten, Fachmediziner und auch die Öffentlichkeit in beiden Ländern weitgehend einig.

Frankreich, Belgien und die Schweiz halten die Schulen offen

Eine andere Gruppe von Ländern, darunter einige mit mittlerem bis hohem Infektionsgeschehen wie Frankreich, Belgien und die Schweiz, hat die Schulen in diesem Winter vorerst nicht wieder geschlossen. Das hat auch mit den Erfahrungen der Schulschließungen im Frühjahr zu tun. In Frankreich etwa hatten die Schulen im Frühjahrslockdown den Kontakt zu Hunderttausenden von Schulkindern vollständig verloren. Gleichzeitig stiegen Krankenhauseinweisungen wegen Gewalt an Kindern einer Studie zufolge um 50 Prozent. Da Schulen und Kitas eine wichtige Rolle bei der Erkennung und Nachverfolgung von Gewalt in Familien spielen, will man es sich diesmal mit der Schließung nicht leicht machen.

Vor den psychischen Folgen von Isolation, mangelnder Struktur und Bewegung durch geschlossene Bildungseinrichtungen und Sportvereine warnen Kinderärztinnen und -ärzte nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, Großbritannien und vielen anderen Ländern. Möglicherweise erhöhten Risiken durch neue Virusvarianten, die in Großbritannien und Dänemark schon weit verbreitet sind, wollen Frankreich und andere Länder wie Belgien und Österreich durch vermehrtes Testen, verstärkte Kontaktnachverfolgung, Quarantäne- und Hygieneregeln in Schulen und Kitas begegnen.

Wichtig ist hierbei zu unterstreichen, dass sich anfängliche Befürchtungen, neu aufgetretene Mutanten verbreiteten sich besonders schnell in Schulen, nicht erhärtet haben. Auch wenn sich neue Virusvarianten zum Teil offenbar insgesamt schneller verbreiten, gilt wie bei den Vorgängern, dass Kinder dafür weniger empfänglich zu sein scheinen als Erwachsene.

In der Schweiz spielen auch Studien zum Infektionsgeschehen eine Rolle bei der Entscheidung zum Umgang mit Schule. Die Zürcher Ciao Corona Studie stellte zwar fest, dass bei zunehmendem Infektionsgeschehen auch die Fallzahlen in Schulen steigen. Allerdings deckten die Forscherinnen und Forscher selbst im November und Dezember bei deutlich stärkerer Verbreitung von Sars-CoV2 in der Zürcher Bevölkerung als etwa in Deutschland kaum Häufungen von Infektionen in Schulen auf. Deswegen räumt die Covid-19-Science-Taskforce, die die Schweizer Regierung in Fragen des Pandemie-Managements berät, dem Recht auf Bildung Vorrang ein. Die Infektionszahlen fallen trotzdem seit Jahresende deutlich.

Ausbrüche in Schulen und Kitas lassen sich eindämmen

Zwar gibt es auch Berichte über einzelne größere Ausbrüche an Schulen, aber systematischere Untersuchungen wie etwa Kontaktnachverfolgung an Frankfurter Schulen oder umfangreiche Tests von Schulkindern und ihren Familien in der Berliner Corona Schulstudie zeigen auch in Deutschland, dass sich mit geeigneten Hygienemaßnahmen selbst bei starker und dynamischer Ausbreitung von SARS-CoV2 in der Bevölkerung Ansteckungen in Bildungseinrichtungen zuverlässig eindämmen lassen.

Insbesondere für Grundschulkinder ist selbständiges und konzentriertes Lernen alleine zu Hause vor dem Bildschirm nur in seltenen Fällen effektiv möglich. Für noch Jüngere ist es nahezu ausgeschlossen. Gerade kleine Kinder brauchen die Interaktion mit Lehrkräften und Gleichaltrigen, nicht zuletzt weil sie in der Schule nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch soziales Miteinander lernen. Das zeigen auch die Erfahrungen mit den Schulschließungen im Frühjahr. In den Niederlanden etwa, die auf digitalen Unterricht vergleichsweise gut vorbereitet sind, waren die Lernfortschritte bei Grundschulkindern im vergangenen Schuljahr im Schnitt um rund ein Fünftel geringer als in normalen Jahren.

Langzeitstudien zeigen die gravierenden Folgen

Am deutlichsten waren die Lernverluste bei Kindern aus benachteiligten Familien. Dass sich solche Rückstände nicht ohne Weiteres aufholen lassen, verdeutlichen Studien, die die Folgen unterbrochenen Schulunterrichts durch längere Streiks, Krieg oder etwa die verkürzten Schuljahre der sechziger Jahre untersuchen. Die betroffenen Jahrgänge erzielten vergleichsweise geringe Abschlüsse, waren häufiger arbeitslos und verdienten über das Erwerbsleben deutlich weniger als andere. Das hat auch Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensdauer, denn die hängen statistisch gesehen eng mit Bildungsniveau und Einkommen zusammen.

Die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen von Schul- und Kitaschließungen können gravierend sein, die Infektionsschutzwirkung hingegen ist ungewiss. Deswegen fordern internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation und UNICEF, aber auch die europäischen und amerikanischen Behörden für Prävention und Kontrolle von Krankheiten, CDC und ECDC, hohe Maßstäbe an die Begründung von Schul- und Kitaschließungen anzulegen. Sie sollten nur als ultima ratio infrage kommen.

Selbstverständlich kann man darüber streiten, wann eine solche Notlage erreicht ist. Im internationalen Vergleich zumindest nimmt Deutschland Kinder bei der Infektionskontrolle relativ stark in die Pflicht. Einschränkungen für Erwachsene hingegen, wie die Verpflichtung zum Home-Office, Bewegungseinschränkungen oder Kapazitätsbegrenzungen im öffentlichen Verkehr, sind in anderen OECD-Ländern oft deutlich stärker. Umso erfreulicher ist es, dass sich jetzt vorsichtige Bemühungen abzeichnen, zumindest den jüngsten Kindern Präsenzunterricht wieder zu ermöglichen.

In jedem Fall ist wichtig, jetzt schon die Folgen eingeschränkten Unterrichts so gut wie möglich abzufedern. OECD-Erfahrungen mit den Schließungen im Sommer zeigen, dass Verlässlichkeit und Planbarkeit für die Beteiligten zentral ist. Wenn hybrides Lernen aus Kapazitätsgründen notwendig ist, ist täglicher Wechsel besser als wöchentlicher. Die Kleinsten und Kinder mit Benachteiligung sollten beim Präsenzunterricht systematisch Vorrang haben. Auch zusätzliche Lernangebote sind notwendig. Im Distanzunterricht brauchen alle Schülerinnen und Schüler täglich einen verlässlichen Ansprechpartner. Das erfordert den Einsatz zusätzlicher Ressourcen. Der sollte den sozialen Kontext berücksichtigen.

Formelbasierte Schulfinanzierung, bei der sich die Mittel am sozio-ökonomischen Hintergrund der Kinder orientieren, ist heute internationaler Standard. Bewährt haben sich neben transparenten Kriterien für Schulöffnungen vor allem lokale Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten. Hier geht es vor allem um frühe Diagnostik und Intervention, die in den Lernalltag integriert und mit Fördermöglichkeiten verknüpft sind.

Schließlich bleibt das Thema Digitalisierung von größter Bedeutung, vor allem um Lernen auch nach der Pandemie anpassungsfähiger, dynamischer und interaktiver zu gestalten. Das wird nur gelingen, wenn Lehrkräfte von Anfang an in die Konzeption und Entwicklung eingebunden sind. Dort liegen größere Herausforderungen als in der Technik. Wenn die Bildungspolitik jetzt die Gelegenheit nutzt, gute Lösungen vor Ort zu finden, zu fördern und zu verbreiten, dann kann die Pandemie neben allen Herausforderungen am Ende auch positive Wirkungen haben.

Über die Autoren:

Nicola Brandt ist Leiterin des OECD Berlin Centre,

Johannes Hübner ist Kinderinfektiologe am Hauner’schen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie

Andreas Schleicher ist OECD-Bildungsdirektor