Worauf es ankommt, wenn man Schülerleistungen weltweit vergleicht

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Von Andreas Schleicher, Leiter der OECD-Direktion Bildung und Kompetenzen

Englische Fassung ursprünglich erschienen im OECD Education and Skills Today Blog.

Wenn amerikanische oder europäische Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewinnen, feiern wir sie als Helden. Geht der Sieg an China, erscheint uns das sofort verdächtig – vielleicht, weil wir uns daran gewöhnt haben, immer zu gewinnen. Bei internationalen Schulleistungsstudien verhält es sich offenbar ähnlich. Kaum wurde bekannt, dass die Ergebnisse der vier teilnehmenden chinesischen Provinzen und Städte bei PISA 2018 besser waren als jene der westlichen Welt, da stellte man sie auch schon infrage.

Manch einer bemängelte, dass im Falle Chinas und Indiens nur einzelne Provinzen teilgenommen hatten und nicht das ganze Land. Die teilnehmenden chinesischen Provinzen und Städte – Peking, Shanghai, Jiangsu und Zhejiang – seien wirtschaftlich weiterentwickelt als die meisten anderen chinesischen Regionen. Das stimmt und dieser Aspekt wurde bei der Interpretation der Ergebnisse auch berücksichtigt. Im Bericht zur Studie weist die OECD darauf hin, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ für das ganze Land sind.

Ein solches Vorgehen ist aber keineswegs ungewöhnlich. Darauf hat der Bildungsexperte Tom Loveless als Erster hingewiesen. Als er nämlich Mitglied des Lenkungsausschusses der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) war, waren OECD-Länder wie Belgien und das Vereinigte Königreich bei internationalen Erhebungen der IEA vor allem durch ihre wirtschaftsstärksten Regionen vertreten, so z. B. bei der Studie Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS). Auch bei internationalen Erhebungen der OECD ist die Teilnahme einzelner Regionen seit Langem gang und gäbe. Bei der Internationalen Studie der OECD übers Lehren und Lernen (OECD Teaching and Learning International Survey – TALIS) wird im Fall Kanadas ausschließlich die leistungsstarke Provinz Alberta berücksichtigt. Auch an der internationalen Vergleichsstudie zu den Kompetenzen Erwachsener (Programme for the International Assessment of Adult Competencies – PIAAC) nehmen aus Belgien, Indonesien und dem Vereinigten Königreich nur die leistungsstarke Regionen Flandern, Jakarta bzw. England und Nordirland teil.

Bemerkenswert an der aktuellen Debatte ist, dass diejenigen, die jetzt das Vorgehen im Fall Chinas bekritteln, gegen die partielle Teilnahme westlicher Länder nie etwas einzuwenden hatten. Und zwar aus einem einfachen Grund: Selbst, wenn in einigen Ländern aus technischen, administrativen oder politischen Gründen nur einzelne Regionen teilnehmen, so gewinnt man doch Vergleichsmöglichkeiten, neue Erkenntnisse und Anregungen für Peer Learning und Kooperationen. Ich habe z. B. vom englischen und vom flämischen Bildungssystem viel gelernt. In Belgien etwa verdecken die nationalen Durchschnittswerte viele aufschlussreiche Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen des Landes. Und eben denen verdanken wir wichtige Erkenntnisse für die Politik.

Mark Schneider, der Leiter des Institute of Education Sciences, das Teil des US-amerikanischen Bildungsministeriums ist, vertrat einst in einem Artikel den Standpunkt, dass sich Massachusetts, der US-Bundesstaat mit den besten PISA-Ergebnissen, durchaus mit den leistungsstärksten Ländern der Welt messen könne. Als Massachusetts 2012 und 2015 an der PISA-Erhebung teilnahm – Alabama übrigens nicht –, glichen die Ergebnisse aber eher jenen von Deutschland oder Vietnam. Mit anderen Worten: Massachusetts schnitt zwar relativ gut ab, lag aber rund 100 Punkte hinter Shanghai (was dem Leistungsabstand zwischen Massachusetts und Mexiko entspricht).

Am wenigsten nachvollziehbar ist für mich die Argumentation, dass man vom leistungsstarken Estland etwas lernen könne, weil es ein Land sei, von leistungsstarken Provinzen und Städten wie Peking, Shanghai, Jiangsu und Zhejiang aber nicht.

Ich bin diese Woche von einer Estlandreise zurückgekommen. Das Bildungssystem dieses Landes hat mich schon immer beeindruckt. Aber: Die vier chinesischen Provinzen und Städte, die an PISA 2018 teilnahmen, haben insgesamt 180 Millionen Einwohner – etwa 130 Mal mehr als Estland –, und es ist ihnen in wesentlich größerem Maßstab gelungen, ein hochwertiges Bildungsangebot zu schaffen. Ihre Leistungen aus politischen oder ideologischen Gründen nicht zu berücksichtigen, wäre ein großer Verlust. Ich verdanke diesen Bildungssystemen wichtige Erkenntnisse. Ihr Ansatz, in exzellente Lehrkräfte zu investieren, Lehrende als Experten zu behandeln und die talentiertesten von ihnen für schwierige Klassen zu gewinnen, kann weltweit als Vorbild dienen.

Als Shanghai 2012 als erste chinesische Stadt an PISA teilnahm, sorgte es mit seinen guten Mathematikergebnissen für Aufsehen. Liz Truss, parlamentarische Staatssekretärin im englischen Bildungsministerium und frühere Mathematiklehrerin, begab sich damals vor Ort und war vom Mathematikunterricht und von den Programmen für Lehrkräfte bzw. für Schulen beeindruckt. Deshalb entwickelte sie gemeinsam mit chinesischen Behörden ein Lehreraustauschprogramm zwischen China und England. Dabei wurden etwa fünfzig Englisch sprechende Mathematiklehrkräfte aus China an mehr als dreißig englische Exzellenzzentren für Mathematik entsandt. Sie präsentierten dort ihre Unterrichtsmethoden, insbesondere was die Orientierung an den Leistungsstärksten und die individuelle Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler betrifft, unterrichteten Mathematik, gaben Hausaufgaben und Feedback. Außerdem leiteten sie für die Schulen vor Ort sogenannte Masterclasses und boten praxisorientierte Lehrerfortbildungen in ihrem Fachbereich an. Die besten Mathematiklehrkräfte dieser Exzellenzzentren wiederum wurden in chinesischen Schulen eingesetzt. Dieses Austauschprogramm fand in beiden Ländern große Beachtung. Es machte vor allem deutlich, wie viel Lehrkräfte von anderen Kulturen lernen wollen und können, wenn ihnen die Chance dazu geboten wird – und man sich traut, ideologische Mauern einzureißen.

Besonders interessant ist dabei, dass das Hauptaugenmerk der meisten PISA-bezogenen Artikel, die in China seit Bekanntgabe der Ergebnisse veröffentlicht wurden, den Schwächen des chinesischen Bildungssystems gilt, die PISA aufgezeigt hat. Hierzu zählen z. B. die vergleichsweise schlechten sozialen und emotionalen Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler in China. Die Artikel verdeutlichen auch den Wunsch Chinas, von anderen Ländern zu lernen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

Den Blick systematisch nach außen zu richten und die gewonnenen Erkenntnisse in die eigene Bildungspolitik und -praxis einfließen zu lassen, ist offenbar ein Ansatz, der vielen leistungsstarken Bildungssystemen gemeinsam ist. Dies unterscheidet wohl auch die Länder, die im Bildungsbereich Fortschritte machen, von jenen, denen dies nicht gelingt. Zurückzuführen ist dies möglicherweise darauf, dass sich manche durch alternative Denkweisen bedroht fühlen, während andere weltoffen sind und bereit, von und mit Bildungsverantwortlichen weltweit zu lernen. In der heutigen Welt zählen weder Tradition noch Reputation, weder Gepflogenheiten noch Praktiken. Was nicht verziehen wird, ist Schwäche. Erfolg wird den Menschen und Ländern zukommen, die offen für Veränderungen sind und rasch handeln, statt sich zu beklagen. Die OECD steht bereit, den Bürgerinnen und Bürgern beim Aufbau hochwertiger und flexibler Bildungssysteme zu helfen.

In unserem jüngsten TopClass-Podcast geht Andreas Schleicher der Frage nach welche Relevanz PISA für die Bildung weltweit besitzt.

Über den Autor:

Andreas Schleicher leitet die Direktion Bildung und Kompetenzen der OECD. Er ist Initiator und Chefkoordinator der Internationalen Schulleistungsstudie PISA.

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