Wenn gleiche Regeln für alle gelten würden, fänden das die Franzosen eigentlich gut, glaubt Monika Queisser, OECD-Abteilungsleiterin für Sozialpolitik. Doch je länger die Diskussion dauere, desto größer die Ängste.
Interview mit der Süddeutschen Zeitung
Die französische Regierung stellt an diesem Mittwoch ihren umstrittenen Plan für ein neues Rentensystem vor. Monika Queisser leitet bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris die Abteilung für Sozialpolitik und ist Expertin für Rentensysteme. Sie erklärt, warum die Rentenreformpläne von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vielen Franzosen Angst machen.
Süddeutsche Zeitung: Die Franzosen protestieren in Massen gegen Veränderungen in ihrem Rentensystem. Haben sie so viel zu verlieren?
Monika Queisser: Ja, haben sie. Die Mitarbeiter der Staatsbahn SNCF haben zum Beispiel sehr viel günstigere Zugangsbedingungen zur Rente als andere Arbeitnehmer. Ihnen ist auch klar, dass sie zu den Verlierern gehören werden. Daher sind die Streiks bei der Bahn nicht verwunderlich, wenn jetzt ein einheitliches System kommen soll, in dem alle französischen Arbeitnehmer organisiert werden.
Es sind nicht nur die SNCF-Mitarbeiter auf der Straße.
Es sind verschiedene Gruppen, die sich als Verlierer sehen, weil sie heute Bedingungen genießen, die man nicht auf alle ausdehnen kann. Wobei manche der Gewerkschaften fordern, dass die besten Bedingungen für alle gelten sollten. Gegen die Reform rebellieren auch Besserverdiener wie Anwälte. Die haben bisher auch ein eigenes System und hohe Kapitalreserven. Wenn das in eine Rente nach Punkten integriert wird, müssen sie künftig mehr Beiträge zahlen und bekommen weniger ausgezahlt. Da Anwälte oft sehr gut verdienen, stellt sich die Frage der Solidarität mit dem Rest der Gesellschaft. Aber die sagen eben: „Wir wollen bei der Reform nicht mitmachen, wir haben ein gutes System, in das wir einbezahlt haben.“
In Deutschland steht der französische Streik eher für einen Protest, der sich gegen den Abbau des Sozialstaates richtet. Ist das zu vereinfachend?
Ich würde das in keinem Fall als Abbau des Sozialstaates interpretieren. Einerseits verstehen die Leute sehr gut, was sie zu verlieren haben, wenn man das Rentenalter erhöht. Andererseits ist die technische Funktionsweise eines Rentensystems oft so kompliziert, dass diffuse Ängste entstehen. Eigentlich finden viele Franzosen die Idee gut, wenn gleiche Regeln für alle gelten. Doch je länger die Diskussion dauert, desto größer die Ängste. Die französischen Lehrer etwa werden schlecht bezahlt, sie verdienen die Hälfte dessen, was ein deutscher Lehrer bekommt. Gleichzeitig ist ihre Rente im Vergleich höher. Die Regierung hat bislang keine Antwort gegeben, wie genau die Umstellung für die Lehrer aufgefangen werden soll.
Der Kniff bei Macrons Reform besteht darin, dass zukünftig nicht mehr nur die besten Verdienstjahre eines Berufslebens für die Höhe der Rente berücksichtigt werden. Werden dadurch nicht insgesamt die Renten nach unten nivelliert?
Das kommt darauf an, für wen. Bei Menschen, die Mindestlohn beziehen, ist das Gehalt über das Erwerbsleben relativ stabil. Für die Leute, die eine rasante Gehaltsprogression haben, ist es aber natürlich besser, zur Rentenberechnung nur die besten 25 Jahre zu nehmen oder, noch besser, nur das beste Gehalt, auf dessen Basis dann die Rente berechnet wird.
Wer könnte denn von der Reform profitieren?
Die Regierung hat noch nicht genug detaillierte Informationen veröffentlicht, um das zu beurteilen. Man weiß, dass es z.B. für Eltern Verbesserungen geben soll. Bislang ist vor allen Dingen klar geworden, wer verlieren wird. Aber ein Gewinn könnte sein, dass es für die ganze Gesellschaft gerechter zugeht, wenn für alle dieselben Regeln gelten und z.B. nicht mehr nur die profitieren, die rasch ansteigende Gehälter haben. Wenn es gerechter zugeht, heißt das aber noch nicht, dass einzelne Gruppen automatisch mehr bekommen.
Können sie grob die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Rentensystem skizzieren?
Das deutsche gesetzliche Rentensystem ist vereinheitlicht, während das französische 42 verschiedene Systeme kennt. Viele Franzosen beziehen Leistungen aus drei, vier verschiedenen Kassen, je nachdem, wie oft sie den Beruf gewechselt haben. Dieses Wirrwarr ist für den Einzelnen schwer zu durchschauen.
Stehen beide Länder vor derselben Herausforderung, dass sie die geburtenstärkeren Jahrgänge, die Babyboomer, finanzieren müssen?
Der demographische Druck ist in Deutschland deutlich größer als in Frankreich. Deutschland hat gegenüber Frankreich allerdings den Vorteil, dass die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer stark gestiegen ist. Deutschland ist der Spitzenreiter unter den OECD-Ländern, was diese Zahl betrifft. Die Leute arbeiten in Deutschland immer länger.
Weil sie Angst haben, sonst nicht ihren Lebensabend finanzieren zu können?
Ich würde jetzt nicht anfangen zu spekulieren, warum das so ist. Es gibt sicher einige, die wollen länger arbeiten. Und es gibt andere, die müssen.
Es gibt deutlich mehr Altersarmut in Deutschland als in Frankreich.
Ja, absolut. Aber von der Rentenhöhe kann man nicht auf Altersarmut schließen. Da spielen auch viele andere Faktoren mit rein, ob man Einkommen aus anderen Quellen hat, wie Mieten oder Kapitaleinkommen, oder ob man alleinstehend ist oder nicht.
Die meisten französischen Gewerkschaften wollen das jetzige System erhalten und gleichzeitig das Renteneintrittsalter für alle Beteiligten nach unten korrigieren. Ginge das irgendwie?
Ich wüsste nicht, wie Frankreich mit einer im internationalen Vergleich sehr hohen Lebenserwartung die Lebensarbeitszeit verkürzen statt verlängern kann. Der Trend geht überall in der Welt zu längeren Lebensarbeitszeiten. Frankreich hat eine niedrige Arbeitsmarktbeteiligung von Älteren. Die Franzosen scheiden im Durchschnitt mit 60,8 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aus. Man muss also gleichzeitig auch darüber sprechen, wie man den Menschen ermöglicht, länger im Arbeitsmarkt zu bleiben. Viele finden im Alter keine Arbeit mehr, auch wenn sie welche suchen. Wenn es tatsächlich so ist, dass die Leute im Alter arbeitslos werden und man gleichzeitig das offizielle Rentenzugangsalter immer weiter erhöht, dann steigt natürlich auch das Risiko von Altersarmut.
Über die Autorin:
Monika Queisser leitet die Abteilung für Sozialpolitik bei der OECD in Paris. Als international anerkannte Rentenexpertin berät sie Regierungen der OECD-Länder bei der Gestaltung und Umgestaltung ihrer Rentensysteme.
OECD-Studie „Renten auf einen Blick 2019“ mit Zusammenfassungen und Empfehlungen für alle OECD-Mitgliedsländer