Wer kümmert sich?
Gewinnung und Bindung von Pflegekräften für ältere Menschen

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Die COVID‑19-Krise trifft den Pflegesektor sehr hart, sowohl aufgrund der großen Zahl der Pflege­bedürftigen, die erkranken, als auch aufgrund der Tatsache, dass Pflegekräfte einem zusätzlichen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Darüber hinaus verdeutlicht die Pandemie die strukturellen Probleme der Pflege – unzu­reichende Personalausstattung, schlechte Beschäftigungsqualität und ungenügende Kompetenzen –, die allesamt die Qualität und Sicherheit in der Pflege beeinträchtigen.

Die neue OECD-Studie Who Cares? Attracting and Retaining Care Workers for the Elderly untersucht deshalb die Probleme der Branche und langfristige Lösungsansätze. Hier veröffentlichen wir eine Zusammenfassung ihrer Kernaussagen auf Deutsch.

Der Bedarf an Pflegepersonal wächst und ist immer schwieriger zu decken

Der Pflegesektor leidet an einem Arbeitskräftemangel, und diese Situation wird sich aller Wahr­scheinlichkeit nach in Zukunft noch verschärfen. In drei Vierteln der OECD-Länder hat die Zahl der älteren Menschen zwischen 2011 und 2016 schneller zugenommen als die Zahl der Pflegekräfte. Die Nachfrage nach Pflegeleistungen wird wahrscheinlich weiter steigen und zusätzlichen Druck auf den Pflegesektor ausüben. In 37 OECD-Ländern wird die Zahl der über 80-Jährigen von über 57 Millionen im Jahr 2016 auf über 1,2 Milliarden im Jahr 2050 ansteigen. Legt man das derzeitige Verhältnis von 5 Pflegekräften für 100 Personen ab 65 Jahren in den einzelnen OECD-Ländern weiterhin zugrunde, hätte dies zur Folge, dass die Zahl der Arbeitskräfte in diesem Sektor bis 2040 um 13,5 Millionen zunehmen müsste.

Arbeitskräfte verlassen den Altenpflegesektor wegen geringer Beschäftigungsqualität

Pflegekräfte sind mit ihrer Vergütung, ihren Arbeitsbedingungen und Karriereaussichten häufig unzu­frieden, wodurch sich der körperliche und seelische Stress des Berufs verstärkt. Dies wiederum führt dazu, dass Arbeitskräfte nur in geringer Zahl gewonnen und gehalten werden sowie zu einem allgemeinen Arbeitskräftemangel in der Altenpflege. Pflegekräfte verdienen viel weniger als Beschäftigte in Kranken­häusern, die ähnliche Berufe ausüben. In den europäischen Ländern betrug der Medianlohn für Pflege­kräfte im untersuchten Zeitraum 9 EUR pro Stunde. Im Vergleich dazu lag er für Arbeitskräfte, die in weitgehend ähnlichen Berufen im Krankenhaus arbeiten, bei 14 EUR pro Stunde. Außerdem gibt es in Krankenhäusern mehr Aufstiegsmöglichkeiten als im Pflegesektor.

Atypische Beschäftigungsverhältnisse, einschließlich Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, sind branchenüblich. Fast die Hälfte (45%) der Pflegekräfte im OECD-Raum arbeitet Teilzeit, womit der Anteil doppelt so hoch ist wie in der Wirtschaft insgesamt. Befristete Arbeitsverhältnisse sind weitverbreitet: Knapp ein Fünftel der Pflegekräfte hat einen befristeten Arbeitsvertrag, dagegen ist es in Kranken­häusern nur gut ein Zehntel. Darüber hinaus sind die Berufe physisch und psychisch sehr anstrengend. Beispielsweise leistet die Hälfte der Pflegekräfte Schichtarbeit, die mit Gesundheitsrisiken wie Angst­zuständen, Burnout und Depressionen verbunden ist.

Unzureichende Ausbildung und Kompetenzen bergen möglicherweise Risiken für die Qualität der Pflege

Betreuungskräfte und Personen, die Pflegehilfsleistungen erbringen, aber nicht als Krankenschwestern oder -pfleger qualifiziert oder zertifiziert sind, machen im OECD-Raum 70% der Beschäftigten in der Pflege aus. Bei der großen Mehrzahl der Pflegekräfte handelt es sich um Frauen der mittleren Altersgruppe. Ein Fünftel ist im Ausland Geborene.

In mehr als zwei Dritteln der OECD-Länder gehen ihre Aufgaben weit über die Hilfe bei grundlegenden Tätigkeiten wie Waschen, Herausheben aus dem Bett und Hilfe bei der Nahrungsaufnahme hinaus. Häufig wirken sie bei der Gesundheitsüberwachung, der Umsetzung von Pflegeplänen und der Führung von Patientenakten mit. In weniger als der Hälfte der befragten Länder müssen Betreuungskräfte jedoch eine Zulassung oder einen Befähigungsnachweis erwerben bzw. vorlegen. Die im Verhältnis zu den erfor­derlichen Aufgaben geringen Qualifikationen können das Risiko einer unzulänglichen Pflege insbesondere von älteren Menschen erhöhen, die einen komplexeren Pflegebedarf aufweisen.

Wie der Personalmangel gemindert und die Produktivität erhöht werden könnte

Mehr Arbeitskräfte gewinnen

Trotz des wachsenden Personalbedarfs in diesem Sektor hat seit 2011 nur die Hälfte der OECD-Länder Maßnahmen oder Reformen zur Förderung von Neueinstellungen umgesetzt. Die meisten Initiativen konzentrierten sich auf Anreize zum (Wieder-)Einstieg in den Pflegesektor oder auf die Verbesserung seines Images.

Die Förderung von Ausbildungsprogrammen im Bereich der Pflege für Schüler/Studierende oder Arbeits­lose kann wirksam sein: Japan gelang es, die Zahl der Pflegekräfte im Zeitraum 2011-2015 um 20 % zu erhöhen. Andere Länder wie Israel, die Niederlande und die Vereinigten Staaten bieten finanzielle Unterstützung für solche Ausbildungsmaßnahmen. Belgien, Portugal und das Vereinigte Königreich haben ebenfalls versucht, die öffentliche Wahrnehmung von Pflegeberufen durch Imagekampagnen zu ver­bessern. Zu weiteren Optionen zählt die Personalgewinnung jenseits der traditionellen weiblichen Ziel­gruppen. Allerdings haben nur wenige Länder (vor allem Norwegen und das Vereinigte Königreich) versucht, Männer für den Beruf zu gewinnen.

Die Personalbindung stärken

Die Erhöhung der Verweildauer im Pflegeberuf durch bessere Beschäftigungsqualität und Ausbildung hat oberste Priorität, um eine angemessene Personalentwicklung in der Pflege zu erreichen. Aufgrund niedriger Löhne, Stress, einer starken Arbeitsbelastung und schweren Arbeitsbedingungen ist es schwierig, Menschen im Pflegesektor zu halten. Die schlechte Bilanz beim Schutz von Pflegekräften vor COVID-19 wird wahrscheinlich dazu führen, dass sich mehr Menschen fragen, ob die Arbeit in diesem Sektor für sie infrage kommt. Mehr als die Hälfte der OECD-Länder hat in den vergangenen zehn Jahren Maßnahmen ergriffen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Arbeitskräfte stärker an den Beruf zu binden.

Daten aus den Vereinigten Staaten und Frankreich zeigen, dass Lohnerhöhungen in der Pflege mit einer verbesserten Anwerbung von Arbeitskräften, länger dauernden Beschäftigungsverhältnissen und einer geringeren Fluktuation verbunden sind. Lohnerhöhungen müssen jedoch gegenfinanziert werden und geregelt erfolgen. Andernfalls führen Lohnanpassungen, die nicht mit einer Aufstockung der Ressourcen einhergehen, zu einer Zunahme der Arbeitsbelastung und der wahrzunehmenden Aufgaben.

Auch Tarifverhandlungen können zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Löhne in diesem Sektor genutzt werden. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad und der Dialog zwischen den Sozial­partnern sind im Pflegesektor sowohl im Ländervergleich als auch innerhalb der einzelnen Länder unter­schiedlich stark ausgeprägt und damit in ihrer Reichweite eingeschränkt. In Deutschland und Portugal beispielsweise erstreckt sich der sozialpartnerschaftliche Dialog nicht auf die erwerbswirtschaftlich orien­tierte Pflegebranche. In anderen Ländern, wie Polen und der Tschechischen Republik, werden Tarif­verträge auf Unternehmensebene abgeschlossen.

Neben besseren Löhnen können die Förderung eines gesünderen Arbeitsumfelds und die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten Fehlzeiten und die Fluktuation verringern und zur Verbesserung des Gesundheitszustands der Arbeitskräfte beitragen. Nur wenige Länder verweisen auf landesweite Programme in diesem Bereich. Die Niederlande haben Coaching-Programme entwickelt, während Japan über Beratungsdienste am Arbeitsplatz verfügt, um die Unfall- und Burnout-Prävention zu fördern. Es ist zu erwarten, dass diesen Fragen nach COVID-19 mehr Aufmerksamkeit als bisher geschenkt werden muss.

Wenn Arbeitskräfte mehr Flexibilität und Eigenverantwortung haben, kann dadurch auch die Arbeits­zufriedenheit gesteigert und die Fluktuation gesenkt werden. Selbstverwaltete Teams, wie in den Nieder­landen, Australien und Japan, haben Krankenschwestern und -pflegern mehr Autonomie gegeben. Einige Länder, darunter Dänemark und Korea, fördern Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten für Betreu­ungs­kräfte.

Die Produktivität steigern und das Kosten-Nutzen-Verhältnis verbessern

Eine bessere Technologienutzung, um Pflegekräfte bei ihrer Arbeit zu unterstützen, und eine bessere Koordinierung der Pflege zu Hause, in Einrichtungen und Krankenhäusern sind von entscheidender Bedeutung, um die Effizienz in diesem Sektor zu steigern. Dies gilt insbesondere für die Kommunikation mit den Patienten und deren Überwachung sowie für die Erhebung von Daten. Die Nutzung von Assistenzsystemen wie Alarm- und Sensortechnologie z. B. in Estland, Norwegen und den Niederlanden, Fernpflegelösungen wie Helix in Australien, Überwachungs- und Selbstmanagementlösungen wie CanAssist in Kanada verfügen über das Potenzial, die Produktivität zu steigern, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Qualität der Pflege zu erhöhen.

Was die Koordinierung anbelangt, so hat ein Drittel der OECD-Länder seit 2011 eine Aufgabendelegation (Übertragung der Verantwortung für die Durchführung einer Tätigkeit bei gleichzeitiger Beibehaltung der Rechenschaftspflicht für das Ergebnis) zwischen Pflegekräften eingeführt. In Australien und den Ver­einigten Staaten beispielsweise helfen ausgebildete Pflegekräfte Krankenschwestern und -pflegern unter Aufsicht beim Medikamentenmanagement.

Eine stärkere Einbindung und engere Koordinierung zwischen formellen Pflegekräften und informell Pflegenden wie Familienangehörigen und Freunden ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Ein Drittel der OECD-Länder hat Maßnahmen ergriffen, um eine bessere Koordinierung der Leistungen und eine stärker integrierte Versorgung im gesamten Gesundheits- und Sozialbereich zu unterstützen. In einigen Ländern, darunter Portugal und die Vereinigten Staaten, werden multidisziplinäre Pflegeteams in die Gestaltung und Entscheidung über Pflegepläne zur Unterstützung älterer Menschen eingebunden. Weniger als die Hälfte der Länder (45 %) hat Maßnahmen ergriffen, um die Koordinierung der von formellen und informellen Pflegekräften geleisteten Pflege zu stärken. In Australien zum Beispiel haben pflegende Angehörige Zugang zu gemeinsam genutzten Pflegeplanungsinstrumenten.

Schließlich investieren nur sehr wenige Länder in Tätigkeiten, die älteren Menschen helfen, gut zu altern oder ihre Autonomie wiederzuerlangen, wenn sie eine Behinderung haben. In den nordischen Ländern ist die Rehabilitation bzw. die Wiederbefähigung fester Bestandteil der Prüfung des Pflegebedarfs. Dieser Ansatz trägt dazu bei, die Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern. Japan legt den Schwerpunkt verstärkt auf Prävention und gesundes Altern. Nach der COVID‑19-Pandemie werden die Länder ihr Pflegepersonal wahrscheinlich dazu anhalten, Prävention und Sicherheit stärker in den Vordergrund zu rücken, um die Zahl von Infektionen und Verletzungen zu verringern.

Zum Weiterlesen:

Who Cares? Attracting and Retaining Care Workers for the Elderly. Vollständige Studie zur Langzeitpflege älterer Menschen in den OECD-Ländern auf Englisch (Juni 2020)

OECD-Übersichtsseite zum Thema Langzeitpflege.