Sind unsere Sozialsysteme krisenfest? – Was Länder tun, um die Folgen der Coronakrise abzufedern

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Eine offene Vorlesung der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) und des OECD Berlin Centre.

Monika Queisser | Abteilungsleiterin für Sozialpolitik im Direktorat für Beschäftigung, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik der OECD

Sechs Millionen Neuanträge auf Arbeitslosengeld pro Woche – Zahlen wie diese aus den USA geben einen Eindruck davon, welcher Belastung die Wirtschaft und Sozialsysteme weltweit in der Covid-19-Pandemie ausgesetzt sind. „In den USA sehen wir die deutlichsten und dramatischsten Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt“, so Monika Queisser in ihrer vergleichenden Darstellung der Lage in den OECD-Ländern.

Auch in anderen Ländern ist Covid-19 ein wirtschaftlicher Schock, allerdings nutzen diese unterschiedliche Instrumente, um die sozialen Folgen abzufangen. So setzen insbesondere in Europa viele Länder auf Kurzarbeit und bauen damit auf ein Instrument, dass sich in Deutschland während der Finanzkrise 2008 bewährt hat. Damit werden Arbeitsplätze zunächst erhalten, aber auch hier sind die Belastungen für die Sozialsysteme enorm und deutlich größer als während der Krise 2008. So haben in Deutschland bereits 650.000 Firmen Anträge auf Kurzarbeit gestellt – zwanzig Mal so viel wie zu Zeiten der Finanzkrise. In Frankreich ist derzeit jeder zweite Beschäftigte im Privatsektor in Kurzarbeit. Hier, wie auch in einigen weiteren OECD-Ländern, stockt der Staat den Lohn der sich in Kurzarbeit befindenden Menschen finanziell auf. In vielen Ländern wird Kurzarbeit derzeit großzügig unterstützt. Das heißt: Kurzarbeit in Anspruch zu nehmen ist schneller und unbürokratischer möglich als vor der Krise. Auch kann sie von einem größeren Teil der Arbeitnehmerschaft in Anspruch genommen werden als früher, etwa auch von befristet Beschäftigten.

Diese Maßnahmen sind in der Geschichte Deutschlands und vieler anderer Länder beispiellos – und dennoch nicht umfassend. Es gibt noch immer viele Menschen, die „durch das Netz fallen“, also nicht ausreichend geschützt sind, so Monika Queisser. Selbständige, geringfügig Beschäftigte, Langzeitarbeitslose und informell Arbeitende haben in den meisten Ländern keinen Zugang zu Arbeitslosenversicherung, Kurzarbeit und Krankengeld. Insgesamt, so die Einschätzung der OECD-Expertin, dürfte mit der Krise wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zunehmen.

Dazu gehört auch, dass die Risiken und Auswirkungen der Krise einen geschlechtsspezifischen Bias aufweisen. Zwar scheint das Virus für Männer gefährlicher zu sein als für Frauen. Es sind aber in vielen der sogenannten systemrelevanten Berufe – etwa im Gesundheits- und Sozialwesen – und in wirtschaftlich besonders stark betroffenen Branchen – etwa dem Hotel- und Gaststättengewerbe und im Einzelhandel – überdurchschnittlich viele Frauen, die die sozialen Folgen zu tragen haben. Es sind meist auch Frauen, die die Kinder, die nicht in die Schule gehen können, betreuen. Alle Maßnahmen der Politik sollten entsprechend eine geschlechtsspezifische Folgenabschätzung beinhalten, so Queisser.

Die Krise wirkt sich auch auf soziale Ungleichheit unter Schulkindern aus. So haben Kinder aus bessergestellten Familien häufiger einen ruhigen Platz zum Lernen und eine gute technische Ausstattung als Kinder aus benachteiligten Familien. Studien deuten außerdem darauf hin, dass es im Zuge des Lockdowns häufiger zu häuslicher Gewalt kommt. In manchen Fällen sind Kinder direkte Opfer dieser Gewalt, in anderen Fällen werden sie Zeugen von Gewalt gegen andere Familienmitglieder und tragen seelische Schäden davon. Diese Auswirkungen der Krise und des Lockdowns lassen sich nur schwer bekämpfen, auch weil Betroffene häufig nicht oder nicht sofort Hilfe suchen. Es sei wichtig, so Queisser, Hilfs- und Schutzangebote für Kinder auszuweiten und medizinische Versorgung bei psychischen Problemen infolge des Lockdowns anzubieten.

Die Präsentation von Monika Queisser:

Über die Expertin:

Monika Queisser leitet die Abteilung Sozialpolitik bei der OECD in Paris. Sie ist Expertin für Arbeitsmarkt-, Renten- und Familienpolitik und forscht zu Fragen der Chanchengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit.

Zum Weiterlesen:

Supporting people and companies to deal with the Covid-19 virus. OECD-Kurzstudie vom März 2020.

Women at the Core of the fight against Covid-19. OECD-Kurzstudie vom April 2020.

Combatting Covid-19’s effects on children. OECD-Kurzstudie vom Mai 2020.