Gewerkschaftlicher Einfluss und Tarifbindung gehen in fast allen OECD-Ländern zurück und stehen durch neue Arbeitsformen unter Druck. Eine aktuelle OECD-Studie „Negotiating our way up“ zu Arbeitnehmermitsprache in einer Arbeitswelt im Wandel analysiert, wie sich die Arbeitnehmermitwirkung auf Beschäftigung, Beschäftigungsqualität und Löhne auswirkt.
Von Sandrine Cazes, Chloé Touzet und Andrea Garnero, OECD-Direktorat für Arbeit und Soziales
Ursprünglich erschienen im Personalmagazin
Wenn Mitarbeitende mit den Arbeitsbedingungen nicht zufrieden sind, haben sie zwei Möglichkeiten: Entweder sie verlassen das Unternehmen oder sie ergreifen die Initiative, sprechen Probleme an und versuchen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Diese bereits 1970 von Albert O. Hirschman vorgestellte Dichotomie von Abwanderung und Widerspruch bietet immer noch eine hilfreiche Grundlage beim Blick in die Zukunft der Arbeitswelt.
„Abwanderung“ ist stets mit Kosten verbunden: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen müssen die persönlichen Kosten eines Stellenwechsels schultern, während Unternehmen Zeit und Ressourcen investieren müssen, um neue Mitarbeitende zu finden und einzuarbeiten. Auch bei „Widerspruch“ fallen Kosten an, wenn er zu Konflikten im Unternehmen führt. Dennoch ist „Widerspruch“ die beste Möglichkeit, zufriedenstellende Lösungen sowohl für die Arbeitgeber- als auch für die Arbeitnehmerseite zu finden. Untersuchungen zeigen, dass „Widerspruch“ die Fluktuation verringert und damit die Kosten senkt, die Arbeitnehmern und Unternehmen im Falle einer „Abwanderung“ entstehen. „Widerspruch“ verbessert die Produktivität und die Arbeitsbedingungen. Es lässt sich ein Zusammenhang nachweisen zwischen einer Widerspruchskultur und geringeren Fehlzeiten, der Einführung produktivitätssteigernder Managementmethoden, weniger unbezahlten Überstunden sowie mehr betrieblicher Weiterbildung. In der Praxis hat jedoch immer noch ein Drittel der Arbeitnehmer (insbesondere Geringqualifizierte, Zeitarbeiter und Arbeitnehmer in Kleinstunternehmen) in Europa keine Möglichkeit, an ihrem Arbeitsplatz „Widerspruch“ zu äußern.
Starker Dialog bringt bessere Arbeitsumgebung
In der Praxis erfolgt Arbeitnehmermitsprache über lokale Gewerkschaftsvertreter, Betriebsräte oder Arbeitnehmervertreter. Die Rechte solcher Vertretungsinstanzen sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgestaltet und reichen vom Recht auf Informationen bis hin zu Beratungs- und Mitbestimmungsrechten, insbesondere in Deutschland. Auf Unternehmensebene können Arbeitnehmer und Gewerkschaften auch in Aufsichtsräten und Vorständen vertreten sein. Für rund die Hälfte der europäischen Arbeitnehmer existieren Formen einer solchen repräsentativen Vertretung. In den letzten Jahrzehnten hat außerdem der direkte Austausch zwischen Belegschaft und Geschäftsführung durch regelmäßige Versammlungen oder direkte Beratungen an Bedeutung gewonnen. Diese Möglichkeit hatten 2015 55 Prozent der europäischen Arbeitnehmer. Ein entscheidender Unterschied zwischen direkter und repräsentativer Arbeitnehmermitsprache liegt in der Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter. Während gewählte Vertreter meist gesetzlich vor Benachteiligung und Kündigung geschützt sind und definierte Rechte haben (Informations-, Beratungs- und Mitbestimmungsrechte), gilt dies nicht für einzelne Arbeitnehmer. Repräsentative Formen der Mitbestimmung können durch Initiative der Belegschaft etabliert werden oder sind gesetzlich vorgeschrieben. Ob es direkte Formen der Mitbestimmung in einem Unternehmen gibt, hängt hingegen von der Bereitschaft der Arbeitgeber ab. Diese beiden Formen der Mitsprache ergänzen sich im besten Fall gegenseitig. Solche Mischformen der Arbeitnehmermitsprache, die repräsentative und direkte Kommunikationskanäle verbinden, sind in Europa am weitesten verbreitet, nämlich bei rund 37 Prozent der Arbeitnehmer. Mitsprachemechanismen und existierende Tarifinstitutionen bilden keinen Widerspruch. Die Studie zeigt vielmehr, dass Formen der Arbeitnehmermitsprache in Ländern mit starken Tarifsystemen (etwa in Nordeuropa) stärker ausgeprägt sind als dort, wo Tarifverträge lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Die OECDStudie belegt, dass die Wertigkeit der Arbeitsplätze steigt, wenn Arbeitnehmervertreter und Arbeitgeber sich zu regelmäßigem Austausch verpflichten. Die besten Arbeitsumgebungen in Europa finden sich dort, wo Arbeitgeber und Geschäftsleitung den direkten Dialog mit der Belegschaft suchen.
Arbeitnehmermitsprache wird immer wichtiger
Wir erleben derzeit einen demografischen und technologischen Wandel. Weltweite Vernetzung und komplexe Zusammenarbeit zwischen wirtschaftlichen Akteuren auf globaler Ebene nehmen zu. Vor diesem Hintergrund sind Regelungen für die Arbeitnehmermitsprache wichtige Instrumente, die zur Bewältigung des Wandels genutzt werden können. Arbeitnehmermitsprache und Tarifpartnerschaft ergänzen staatliche Regelungen sinnvoll und führen zu maßgeschneiderten und ausgewogenen Lösungen auf Unternehmensebene. Angesichts des technologischen Wandels wird lebenslanges Lernen immer wichtiger. Es stellt sicher, dass Arbeitnehmer nicht abgehängt werden und Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Auch hier erweisen sich funktionale Regelungen zur Arbeitnehmermitsprache als nützlich. In vielen OECD-Ländern sind Arbeitnehmervertreter in alle Entwicklungsstufen von Weiterbildungsmaßnahmen eingebunden.
Mit Mitsprache Herausforderungen bewältigen
Trotz der zunehmenden Fragilität von Arbeitsbeziehungen weltweit bleibt Arbeitnehmermitsprache – neben dem Instrument der Tarifpartnerschaft – weiterhin wichtige Voraussetzung, um alte und neue Arbeitsmarktherausforderungen zu bewältigen. Begünstigt durch die neuen Medien entstehen auch neue Formen arbeitsbezogenen Protests wie Boykotte, Online-Massenpetitionen oder Kampagnen in sozialen Netzwerken. Unternehmen wissen oft nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Vor diesem Hintergrund ist es von entscheidender Bedeutung für Unternehmen, dass sie angesichts schneller Veränderungen und realer Reputationsrisiken über funktionsfähige Prozesse zur Beilegung von Konflikten, mit klar definierten Ansprechpartnern auf Arbeitnehmerseite, verfügen. Der gute Wille und die Bereitschaft beider Seiten sind und bleiben Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches System eines betrieblichen Miteinanders.
Über die Autoren:
Sandrine Cazes ist leitende Arbeitsmarktökonomin am Direktorat für Beschäftigung, Arbeit und Soziales der OECD.
Chloé Touzet ist Politologin am Direktorat für Beschäftigung, Arbeit und Soziales der OECD.
Andrea Garnero ist Arbeitsmarktökonom am Direktorat für Beschäftigung, Arbeit und Soziales der OECD.
Zum Weiterlesen:
Negotiating Our Way Up: Collective Bargaining in a Changing World of Work (2019). Vollständige englische Fassung der OECD-Studie zu Tarifbindung und Arbeitnehmermitsprache.
Gemeinsam zum Erfolg – Tarifverhandlungen und Mitsprache in einer Arbeitswelt im Wandel (2019). Zusammenfassung und Überblick auf Deutsch.