Lebenslanges Lernen: Deutschland steht gut da

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Dieser Gastbeitrag von El Iza Mohamedou, Leiterin des OECD Centre for Skills, und Helke Seitz, Analystin beim OECD Centre for Skills, ist ursprünglich am 21.12.2021 auf Bildungsklick erschienen.

Das deutsche Bildungssystem vermittelt erfolgreich Grundkompetenzen wie Lesen und Rechnen über die Zeit der allgemeinen Schulpflicht hinaus. Im internationalen Vergleich ist die Bundesrepublik zudem unter den Spitzenreitern, was den Leistungszuwachs angeht. Das zeigt eine aktuelle OECD-Studie.

Soziale und technologische Transformationen, wie Globalisierung und Digitalisierung, führen zu einem steigenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften und zu veränderten Qualifikationsanforderungen. Für jeden Einzelnen heißt dies, dass nicht nur Kompetenzen (Skills), sondern auch die Einstellung zum Lernen selbst im Laufe des gesamten Lebens weiterentwickelt werden muss: Es ist ein Prozess des lebenslangen Lernens. 

Der OECD Skills Outlook 2021 unterstreicht die Schlüsselrolle des lebenslangen Lernens in einer sich stetig verändernden Gesellschaft. Gleichzeitig zeigt die Corona-Krise, wie wichtig es ist – insbesondere für Arbeitskräfte in krisengebeutelten Branchen –, dass sie sich weiterbilden und beruflich neu orientieren können. Die Pandemie beeinträchtigt nicht nur den Arbeitsmarkt, sie beschleunigt auch den strukturellen Wandel. 

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen ist es wichtig, den Aufbau eines starken Fundamentes an Kompetenzen während der Zeit der allgemeinen Schulpflicht sicherzustellen, damit der Einzelne in der Übergangszeit zwischen Kindheit und jungem Erwachsenenalter und darüber hinaus weiter lernt.

Steigendes Leistungsniveau in Deutschland zwischen Ende der allgemeinen Schulpflicht und jungem Erwachsenenalter

Die OECD-Studie zeigt für Deutschland, dass sich die Leistung der meisten Jugendlichen während der Übergangsphase der allgemeinen Schulpflicht zum jungen Erwachsenenalter im Bereich der Lesekompetenz deutlich verbessert. Es wird hierfür das Leistungsniveau von 15-Jährigen mit der gleichen Kohorte 12 Jahre später im Alter von 27 Jahren verglichen. Die Daten stammen aus der internationalen Schulleistungsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) aus dem Jahr 2000 sowie der Erwachsenenkompetenzstudie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) aus dem Jahr 2012. Die Ergebnisse zeigen, dass die Leistung im Bereich der Lesekompetenz zwischen 15- und 27-Jährigen deutlich ansteigt. Es gelingt Jugendlichen also, über die Zeit der allgemeinen Schulpflicht hinaus ihre Kompetenzen auszubauen. In Zahlen ausgedrückt: Jugendliche zwischen 15 und 27 Jahren konnten ihre Lesekompetenz um 25 Punkte steigern . Damit liegt Deutschland nicht nur weit über dem OECD-Durchschnitt von 13 Punkten Zuwachs, sondern ist ebenfalls unter den Spitzenreitern im internationalen Vergleich. Die Abbildung zeigt, dass Deutschland unter den Top 3-Ländern mit dem größten Leistungszuwachs liegt, hinter Japan und Israel.

Worauf lässt sich dieser Leistungszuwachs zurückführen? Sicherlich trägt Deutschlands duales Ausbildungssystem maßgeblich zu dieser Leistungssteigerung bei. Die duale Ausbildung, eine Besonderheit des deutschen Systems, kombiniert schulische Bildung und betriebliche Ausbildung. Das schafft einen fließenden Übergang zwischen der allgemeinen Schulpflicht und dem jungen Erwachsenenalter und ermöglicht so eine weitere Leistungssteigerung. Jedoch ist der markante Leistungszuwachs nicht zwangsläufig eine universelle Eigenschaft dualer Ausbildungssysteme. Im Nachbarland Österreich etwa betrug der Leistungszuwachs nur zwölf Punkte.

Ein detaillierter Blick in die Daten zeigt jedoch: Wenngleich der Leistungszuwachs unter Jugendlichen in Deutschland enorm war, so war das Ausgangsniveau eher unterdurchschnittlich. Die Lesekompetenz von 15-Jährigen im Jahr 2000 lag mit 484 Punkten unterhalb des OECD-Durchschnitts von 500 Punkten, was statistisch gesehen eine deutliche Abweichung ist. Sieht man sich jedoch den Leistungstrend der Lesekompetenz der gleichen Altersgruppe zwischen den Jahren 2000 und 2018 an, so ist ein deutlicher Anstieg auf 498 Punkte zu verzeichnen. Mit dieser deutlichen Steigerung positioniert sich Deutschland 2018 knapp oberhalb des OECD-Durchschnitts von 493 Punkten.

Wie fördert das duale System die Entwicklung von Grundkompetenzen?

Die OECD-Studie zeigt jedoch nicht nur eine Leistungssteigerung von Jugendlichen im Bereich der Lesekompetenz zwischen dem 15. und 27. Lebensjahr, sondern auch eine Angleichung von Leistungsniveaus. Jugendliche mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund konnten deutlich beim Leistungsniveau nachziehen.  Insgesamt verringern sich dadurch Disparitäten zwischen dem 15. und 27. Lebensjahr zwischen Schülerinnen und Schülern mit günstigem sozioökonomischem Hintergrund und solchen mit ungünstigem Hintergrund. Während Jugendliche mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund im 15. Lebensjahr um 23 Punkte zurückliegen, reduziert sich dieser Abstand im 27. Lebensjahr auf 11 Punkte. Diese sinkende Divergenz ist auf eine größere Leistungssteigerung von Schülerinnen und Schülern mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund zurückzuführen.

Ein Blick in die Daten zeigt, dass Schülerinnen und Schüler mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund ihre Lesekompetenz zwischen 15 und 27 Jahren um 24 Punkte steigern konnten. Jugendlichen mit begünstigtem Hintergrund steigerten sich nur um 12 Punkte. Der Leistungszuwachs von jungen Erwachsenen mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund liegt 14 Punkte über dem OECD-Durchschnitt von 10 Punkten.

Da Weiterbildung eine entscheidende Rolle bei der weiteren Entwicklung der Lesekompetenz spielt, steht die in Deutschland beobachtete abnehmende Kluft zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichem sozioökomischem Hintergrund im Einklang mit der Tatsache, dass in der Praxis viele Schülerinnen und Schüler ihren Bildungsweg nach der Schule fortsetzen, dank der Möglichkeiten eines nahtlosen Übergangs in eine Ausbildung. Zudem reduziert die Schulpflicht in Deutschland, die je nach Bundesland zwischen neun und zwölf Jahren liegt, das Risiko, dass leistungsschwache Jugendliche – insbesondere solche mit ungünstigem sozioökonomischem Hintergrund – die Schule frühzeitig verlassen. Da in Deutschland sowohl das schulische als auch das betriebliche Lernen öffentlich und privat finanziert werden, erhalten Schülerinnen und Schüler, die eine Ausbildung absolvieren, außerdem eine Vergütung für ihre Arbeit, was die Wahrscheinlichkeit eines Abbruchs oder einer Teilzeitbeschäftigung, die der Entwicklung von Fähigkeiten weniger förderlich ist, weiter verringert. 

Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse des OECD Skills Outlook 2021 die Stärken des deutschen Bildungssystems. Das duale Ausbildungssystem ist eine Besonderheit im internationalen Vergleich aber wie jedes System nicht frei von Kritik. Eine Stärke des dualen Systems in Deutschland spiegelt sich jedoch in der beschriebenen Leistungssteigerung und den gesunkenen Disparitäten nach Schulende wider. Während in den vergangenen Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Lesekompetenz der 15-Jährigen zu beobachten war, gilt es nun dieses Niveau zu halten und weiter auszubauen. Zusätzlich sollte die Diversität von Schülerinnen und Schülern besser in die Bildungspolitik einbezogen werden, um somit ein inklusives Bildungssystem zu stärken. Gleichzeitig wird durch die Corona-Pandemie die Widerstandsfähigkeit des dualen Systems auf die Probe gestellt. Ein Großteil des Lernens, auch informell und nichtformal, findet normalerweise direkt in Unternehmen statt. „Social distancing“ heißt in einer solchen Situation, dass Wissen nicht wie gewohnt vermittelt werden kann. Während die Corona-Pandemie weltweit die Bildungssysteme durcheinander bringt, sind die in der OECD-Studie präsentierten Ergebnisse jedoch ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass Deutschland mit einem vergleichsweise starken System in die Pandemie gegangen ist.

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