Auszug aus einem Interview der Tageszeitung ‚Die Welt‘ mit OECD-Generalsekretär Ángel Gurría, anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung der OECD. Das Gesprächführte Klaus Geiger. Das vollständige Interview finden Sie hier.
WELT: Herr Gurría, Ihre Organisation hat noch im Herbst verkündet, ein zweiter Lockdown müsse unbedingt vermieden werden. Es müssten die besten Strategien weltweit ausfindig gemacht und angewendet werden. Nun ist Europa im zweiten Lockdown. Offensichtlich haben die Regierungen die Zeit zwischen den beiden Wellen verschlafen.
Ángel Gurría: Das ist ein harsches Urteil. Es wurde sehr viel getan. Die europäischen Staaten haben die Zahl der Krankenhausbetten deutlich erhöht. Das deutsche Gesundheitssystem war schon in der ersten Welle gut vorbereitet und hat sogar Patienten aus Nachbarstaaten aufgenommen. Jetzt sind die Ärzte und Krankenschwestern sehr viel erfahrener, es wird nicht mehr so oft zur künstlichen Beatmung gegriffen. Und, nicht zuletzt: Es gibt einen Impfstoff!
Das sind alles Maßnahmen, um die Folgen der zweite Welle zu beherrschen. Warum wurde nicht mehr getan, um die zweite Welle zu verhindern?
Ja, wir hätten schneller aus den Erfahrungen der ersten Welle lernen müssen. Aber das ändert nichts an dem Drama und der Tragödie dieser Pandemie, die Leben und Gesundheit der Menschen bedroht und schwerwiegende ökonomische und soziale Folgen hat. Wir hatten nach der ersten Welle gehofft, dass sich die Volkswirtschaften der großen Länder 2021 erholen werden. Aber nun ist die Dynamik weg, egal, ob in den USA, Europa oder Lateinamerika.
Aber nicht in Asien. Dort geht man dynamisch in das neue Jahr, weil die zweite Welle eben doch verhindert werden konnte. Was haben diese Länder besser gemacht?
Mehrere Dinge. Zunächst einmal war der erste Lockdown dort lang und streng. Außerdem wird dort stark auf Technik gesetzt, und konsequent auf eine Strategie von Tests, Nachverfolgung und Isolation.
Warum war das in Europa und den USA nicht möglich?
Das hat mit der Nutzung der Technik zu tun, hat aber auch politische Gründe. In den Gesellschaften der USA und Europas ist es schwieriger, eine Balance zu finden. Da wird ein Dilemma zwischen Gesundheit und Wohlstand konstruiert, das es gar nicht gibt. Man muss nicht zwischen Virus und Wohlstand entscheiden. Man muss das Virus attackieren, das Virus treffen, das Virus vernichten! Je schneller das gelingt, desto geringer sind die ökonomischen und sozialen Konsequenzen. In Asien wurde darüber weniger diskutiert als in den USA oder in europäischen Staaten. Meistens waren die Regierenden sehr klar, auch hier in Europa. Die deutsche Kanzlerin war sehr deutlich bei der Frage, was die Implikationen der Pandemie sind. Sie ist ja eine Wissenschaftlerin! Sie kommt aus der Welt der Evidenz.
Ein Kerngedanke von Demokratie ist bekanntlich, dass durch Debatte die besten Lösungen gefunden werden. Verstehe ich Sie richtig: Sie sagen, man sollte besser auf die Wissenschaft hören statt zu debattieren.
Nein. Ich glaube vielmehr, dass die demokratische Debatte der einzige Weg ist, die Probleme zu lösen. Die entscheidende Frage ist: Wie lange debattiert man? Und auf wie viele Stimmen will man hören? Und ob in einer Demokratie nicht das getan werden sollte, wofür die Mehrheit ist. Die Staatenlenker müssen ihre Bürger schützen, dafür werden sie gewählt. Sie müssen klar sein in ihren Entscheidungen und Prioritäten setzen, nachdem sie Wissenschaft und Wirtschaft angehört haben. Debatten sind entscheidend, aber man kann in einer Pandemie nicht endlos debattieren. Da muss man handeln. Wenn es zu lange dauert, werden die Ereignisse einen überrollen. Vielleicht ändert man den Kurs später. Aber man muss sich entscheiden und sollte mit seinen Entscheidungen immer auf Nummer sicher gehen. Im Zweifel muss man sich sagen, ich liege lieber falsch auf der sicheren Seite, als dass man die Situation einfach laufen lässt.
Nun kommen ja in Asien nicht nur Diktaturen besser durch die Krise, sondern auch Demokratien wie Japan oder Südkorea. Dort wird doch auch debattiert.
Zunächst hatten Länder wie Japan oder Südkorea eine sehr gute Infrastruktur und waren deshalb gut vorbereitet. Sie haben eine alte Bevölkerung, deshalb hatten sie viel Erfahrung bei der Behandlung älterer Menschen.
Das gilt auch für viele europäische Staaten.
Richtig. Aber in Asien gab es Sars. Diese Länder wussten, was eine Pandemie bedeutet; was es heißt, gegen ein Virus zu kämpfen. Hinzu kommt, dass das Länder sind, in denen die Menschen den politischen Anführern vertrauen. Wenn man von ihnen verlangt, die notwendigen Maßnahmen zu beachten, dann tun sie das. Und die Resultate sind besser. Das sollte eine Lehre für all jene sein, die glauben, durch die Corona-Maßnahmen sei unsere Freiheit in Gefahr. Es geht nicht um Freiheit! Diese Menschen gefährden die Gesundheit aller Mitmenschen, weil sie unverantwortlich sind. Ich meine, wir haben Debatten über die Frage, ob man sich impfen lassen soll oder nicht. Um Gottes willen, eine Impfung! Wie können wir das überhaupt zulassen? Das ist eine Herausforderung, die in den kommenden Monaten noch auf uns zukommt.