Sozial aufzusteigen ist in Österreich viel schwieriger als in anderen Ländern, kritisiert der leitende OECD-Ökonom Michael Förster. Wer unten ist, bleibt es meist auch. Bildung und Karrieren werden in Österreich besonders stark vererbt. Einer der Hauptgründe dafür sei Österreichs Schulsystem.
Interview mit dem Moment Magazin.
Moment: In Österreich dauert es 5 bis 6 Generationen bis die Nachkommen der ärmsten Menschen das Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft erreichen. Das ist länger als im OECD-Schnitt. Warum dauert es in Österreich so lange, sozial aufzusteigen?
Michael Förster: In Österreich funktioniert einiges nicht mit dem sozialen Aufzug. Die Verdienstmobilität zwischen den Generationen ist geringer, und Kinder aus Arbeiterfamilien haben es schwerer zu Führungskräften aufzusteigen als anderswo. Vor allem der Bildungssektor spielt hier eine Rolle.
Was muss bei der Bildung geändert werden, damit der soziale Aufstieg leichter gelingt?
Fairerweise muss man sagen, dass wir in der Studie Entwicklungen über Generationen betrachten. Was jetzt herauskommt sind auch die Ergebnisse älterer Bildungssysteme. In den vergangenen zehn Jahren sind ja einige Dinge in die richtige Richtung geändert worden. Doch an grundsätzlichen Dingen wurde nicht gerüttelt: Dass Kinder so früh in zwei Schultypen getrennt werden, ist nicht förderlich. Das ist einer der Hauptgründe für mangelnde Mobilität.
Das soll jetzt nicht heißen, dass alle nach den gleichen Lehrplänen unterrichtet werden sollen. Es soll schon verschiedene Stränge geben, die müssen aber durchlässig sein. Alle Schüler sollten unter einem Dach sein. Sie müssen nicht dasselbe lernen, aber gemeinsam. In diesem jungen Alter ist man noch sehr offen. Wenn sich Freundinnen und Freunde für etwas interessieren, kann einen das mitreißen und man sich ebenfalls noch anders entwickeln. Sind alle Schüler unter einem Dach, ist auch die Reputation dieselbe. Wer aus einer Hauptschule oder Neuen Mittelschule kommt, hat es derzeit dabei schwerer als jemand im Gymnasium und AHS. Ein weiterer Punkt ist die Finanzierung. Es ist sinnvoll, mehr Mittel für Brennpunktschulen aufzuwenden. Die sogenannte „indexbasierte Finanzierung“ wurde of diskutiert, aber nie umgesetzt.
„Nur sechs Prozent der Kinder, deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben, studieren.“
Ist der Vater Arbeiter, wird es der Sohn auch. Wer Führungskraft ist, dessen Nachkommen werden oft auch Manager. Nur in Portugal werden Karrieren noch häufiger vererbt als in Österreich. Warum?
60 Prozent der österreichischen Managerkinder werden selbst auch Führungskräfte. Da gibt es das, was wir „sticky ceilings“ nennen, „klebrige Plafonds“. Wessen Eltern ein gewisses Niveau erreicht haben, für den geht es weniger wahrscheinlich wieder abwärts. In Österreich ist das Problem aber nicht am oberen Ende – die 60 Prozent entsprechen dem OECD Schnitt –, sondern am unteren Ende.
Da gibt es die „sticky floors“, die „klebrigen Böden“. Von dort hochzukommen, ist sehr schwer. 20% schaffen es nach oben in Österreich, aber 30% im OECD Schnitt. Genauso ist es auch in der Bildung, das hängt zusammen. 62 Prozent der Akademikerkinder sind selbst Akademiker. Aber nur 6 Prozent der Kinder, deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau aufweisen, also Sekundarbereich I oder weniger. Im OECD-Schnitt sind es 22 Prozent.
Welche Gruppen sind besonders gefährdet, im sozialen Aufzug steckenzubleiben?
Frauen hängen gegenüber Männern zurück und Migrantinnen und Migranten gegenüber hier Geborenen. Für Frauen geht es schon nach oben, aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Wenn Frauen Mütter werden, dann sinkt langfristig ihr Einkommen. Die Verdienstverläufe von Frauen und Männern sind nach der Geburt von Kindern viel ungleicher als in anderen Ländern, zum Nachteil der Frauen.
Woran liegt das und wie kann man das aufbrechen?
Früher war es üblich, dass es einen Hauptverdiener gab und die Partnerin zuhause geblieben ist. Heute gibt es zumindest eineinhalb Verdiener. Die letzte Steuerreform hat Haushalte entlastet, in denen es einen Verdiener in Vollzeit oder eineinhalb Verdiener gibt. Arbeiten aber beide in Vollzeit, erhöht sich die Steuerlast rapide. Auf der anderen Seite leben Männer eine Kultur der Überstunden, die belohnt wird. Das ist in Österreich ausgeprägter als in anderen Ländern. Wenn Männer noch mehr arbeiten, hilft das natürlich nicht dabei, Betreuungspflichten aufzuteilen. Das kann man problemlos angehen. Man muss es nur tun!
„In vielen Ländern gibt es von Beginn an eine Chancenungleichheit unter den Menschen.“
Lange galt die Demokratie als der Schlüssel Ungleichheit zu beseitigen. Inzwischen steigen Vermögensungleichheiten wieder und auch von Chancengleichheit kann nicht mehr die Rede sein, wie Sie zuletzt festgestellt haben. Warum funktioniert das nicht mehr?
Relativ lange wurde nur darauf geschaut, Einkommen und Vermögen umzuverteilen. Man ging davon aus, dass Chancengleichheit und dieselben Möglichkeiten für jeden großteils gegeben sind. Dass der Sozialstaat nur dafür sorgen musste, mit Steuern, Sozialleistungen und anderen Mitteln Ungleichheiten auszugleichen, die am Ende entstehen. Jetzt haben wir uns aber einmal angesehen, wie es auf der anderen Seite aussieht, also quasi am Start. Und wir sehen: In vielen Ländern gibt es von Beginn an eine Chancenungleichheit unter den Menschen. Es müssen also auch die Möglichkeiten nach oben zu kommen, umverteilt werden.
Gleichzeitig ist aber die Abstiegsmobilität für die Mittelschicht gestiegen. Warum?
Das Risiko von der unteren Mittelschicht ins untere Fünftel abzufallen beträgt in Österreich 40 Prozent. Das sind zweieinhalb Prozentpunkte mehr als bei der letzten Erhebung. Für die Mitte der Mittelschicht und die obere Mittelschicht ist das Risiko hingegen signifikant gesunken, von rund 9 Prozent auf 4 bis 5 Prozent. Was heißt das? Es ist Hinweis auf eine Polarisierung in der Mitte der Gesellschaft. Wenn das passiert, wirkt das auch auf die Politikprogramme.
Das heißt, einzelne soziale Gruppen werden gegeneinander ausgespielt? Die Mittelschicht, die Angst hat vor dem Abstieg, will sich dann von den unteren Schichten stärker abgrenzen und ist weniger solidarisch mit ihnen?
Ja, das könnte passieren. Wir haben den Auftrag bekommen, zur Krise der Mittelschicht zu forschen. Der Punkt ist: Diese Krise hat sich nicht an den Einkommen festmachen lassen, der Anteil der Haushalte mit mittlerem Einkommen ist konstant geblieben. Die zunehmende Unsicherheit und Unzufriedenheit sind aber real, Befragungen zeigen das. Erstens geht es um zunehmende Unsicherheit am Arbeitsmarkt: Die Jobs, die jetzt ersetzt werden oder von zukünftigen Automatisierungsrisken betroffen sind, sind zum größten Teil in der Mitte. Das erhöht die Unsicherheit.
Das zweite sind Konsumgüter, in die wir investieren. Typische Mittelklassegüter wie Wohnung, Schulbildung, die gesundheitliche Absicherung sind teurer geworden. Deren Preise haben sich viel stärker erhöht, als die Reallöhne gestiegen sind. Sehr wichtig ist Wohnen. In manchen Städten sind die Kosten dafür dreimal so stark gestiegen wie die Löhne. Im OECD-Schnitt brauchte vor 30 Jahren eine Mittelklassefamilie sieben Jahresgehälter, um sich eine 60 Quadratmeter große Wohnung kaufen zu können. Heute sind es elf Jahre. Das ist immens. Das Problem ist weniger das Einkommen, sondern die Leistbarkeit. Ob das Einkommen zur Miete oder in Eigentum verwendet wird, ist dabei aber nicht so wichtig. Wichtig ist, dass es leistbares Wohnen gibt.
„Es ist der urliberalste Ansatz, die eigenen Leistungen zu belohnen und das zu besteuern, was man geschenkt bekommt.“
Sie schreiben, dass die stärkere Besteuerung von Vermögen bei geringerer Besteuerung von Arbeit auch die Chancengleichheit erhöhen könnte. Wie soll das funktionieren?
Es geht zunächst einmal grundsätzlich darum, die Steuerlast von arbeitsbezogenen auf vermögensbezogene Steuern umzugewichten. Eine entscheidende Rolle dabei spielen gut konzipierte Kapitalertragssteuern, inklusive Steuern auf Kapitalgewinne. Nettovermögenssteuern sind hinter diesen und nach einer Erbschaftssteuer nur die drittbeste Variante.
Ob das auch die Lebenschancen besser verteilt, hängt davon ab, wofür die Einnahmen verwendet werden. Wenn ich sage, ich erhebe ein Prozent Steuern auf Vermögen ab einer Million oder 1,5 Millionen Euro, dann trifft das 150.000 Haushalte in Österreich. Damit können Sie gute drei Milliarden Euro einnehmen. Das wird den GINI-Koeffizienten, also das internationale Maß für Ungleichheit, nicht jucken. Aber wenn ich das nicht nur einfach in den Staatshaushalt stecke, sondern zielgerichtet investiere, dann kann es etwas ändern. Der Forscher Anthony Atkinson hat beispielsweise eine „Erbschaft für alle“ vorgeschlagen, indem jedem jugendlichen Erwachsenen ein Startkapital von 5.000 bis 10.000 Euro zur Verfügung gestellt wird – natürlich um damit etwas produktives zu machen. Das kann umverteilend wirken.
Die Vermögenssteuer betrifft nur 150.000 Haushalte, dennoch regt sich dagegen großer Widerstand – auch von Menschen, die das gar nicht betrifft. Ebenso ist es bei der Erbschaftssteuer. Wie erklären Sie sich das?
Das stimmt und geht übrigens quer durch alle Parteien, inklusive liberaler Parteien.. Und das, obwohl es ja der urliberalste Ansatz ist, die eigenen Leistungen zu belohnen und das zu besteuern, was man geschenkt bekommt. Da wird sehr leicht etwas vermischt: Es werden das Sparbuch der Oma oder das kleine Haus und der Schrebergarten im Burgenland genannt. Aber um die geht es gar nicht.
Es geht um die relativ wenigen Haushalte, die hohe Vermögenswerte haben. Bei den privaten Haushalten ist das das oberste Prozent. Einerseits geht es um Finanztitel. Das sind Milliardenwerte, die werden in der Debatte aber kaum erwähnt, sondern immer nur kleine Vermögen. Natürlich muss man einen Konsens schaffen, dass diese Steuern etwas bringen, gerecht sind und alle davon profitieren. Wenn das nicht der Fall ist, dann können Sie es lassen.
Über den Interviewten:
Michael Förster ist leitender Ökonom mit Schwerpunkt auf Einkommen und Verteilungsfragen bei der OECD in Paris.
OECD-Studie „A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility“ (2018)