„Nahrungsmittel kommen nicht dort an, wo sie gebraucht werden“ – OECD-Chefökonomin im Interview mit dem SPIEGEL

© OECD / Maud Bernos

Ursprünglich im SPIEGEL erschienenes Interview mit OECD-Chefökonomin Laurence Boone vom 8. Juni 2022. Das Interview führte Michael Brächer.

Frau Boone, die OECD hat ihre Wirtschaftsprognose drastisch gesenkt. Welchen ökonomischen Preis zahlt die Welt für Russlands Angriff auf die Ukraine?

Wir glauben, dass das globale Wirtschaftswachstum wegen des Ukrainekriegs in diesem Jahr nur noch bei etwa drei Prozent liegen dürfte. Das wären 1,5 Prozent weniger, als wir noch im Dezember erwartet haben. Und die Inflation fällt in den OECD-Ländern mit neun Prozent fast doppelt so hoch aus. Insbesondere bei Energie und Nahrungsmitteln sehen wir drastische Preisschwankungen.

Sie warnen vor einer globalen Nahrungsmittelkrise infolge des Krieges. Welche Länder sind am stärksten betroffen?

Gerade ärmere Staaten im Mittleren Osten und Afrika, wie Armenien, der Sudan oder der Libanon sind besonders auf Weizenlieferungen aus Russland und der Ukraine angewiesen. Das Problem ist aber nicht, dass es zu wenig Grundnahrungsmittel auf der Welt gibt, sondern dass diese Nahrungsmittel nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden, und zu teuer sind.

Wie lässt sich das Problem lösen?

Wirtschaftlich stärkere Staaten müssen schwächere Länder insbesondere bei der Logistik unterstützen, damit die benötigten Nahrungsmittel schnell an ihr Ziel kommen. Wir müssen Handelsbarrieren abbauen, damit die Preise nicht noch weiter steigen. Und wir müssen den betroffenen Ländern finanziell unter die Arme greifen, damit sie ihre Bevölkerung zu bezahlbaren Preisen versorgen können.

Nicht nur Nahrungsmittel werden teurer. Die Inflationsraten in vielen Ländern eilen von Rekord zu Rekord. Liegt das wirklich nur am Ukrainekrieg und den Wirtschaftssanktionen gegen Russland?

Durch den Krieg hat sich die Inflation zwar verschärft, aber los ging es mit der Pandemie. Inzwischen sehen wir, dass die Preissteigerungen in vielen Ländern über Nahrungsmittel- und Energiepreise hinausgehen.

… so wie in Deutschland, wo die Preise im April um 7,4 Prozent gestiegen sind.

Deutschland ist eine sehr offene Volkswirtschaft. Die höheren Preise für Importgüter – etwa Maschinenteile – bekommen deutsche Kunden deshalb schnell zu spüren. Dazu kommen die anhaltenden Lieferengpässe durch die chinesische Zero-Covid-Politik. Und die verschiedenen Wege, die Bevölkerung wegen der hohen Preise zu unterstützen, beeinflussen die Inflationszahlen in den Ländern auf unterschiedliche Weisen.

Manche Ökonomen fürchten, dass nun eine Spirale aus steigenden Löhnen und noch höheren Preisen droht. Zu Recht?

Das glaube ich nicht. In Deutschland ist das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im internationalen Vergleich außerordentlich gut. Beide Seiten teilen die Lasten, das gilt auch für höhere Inflation. Wir sehen zwar einige Lohnerhöhungen, aber sie sind bisher überschaubar. Deswegen gehen wir übrigens auch davon aus, dass die Inflation in Deutschland schon im dritten Quartal ihren Höhepunkt erreichen wird.

Notenbanken wie die Europäische Zentralbank haben der steigenden Inflation lange tatenlos zugeschaut. Jetzt will die EZB gegensteuern und stellt ein Ende der Anleihekäufe und Zinserhöhungen in Aussicht. Was, wenn das die Konjunktur abwürgt?

In der Eurozone wächst die Wirtschaft noch immer, und der Arbeitsmarkt ist sehr gesund. Es gibt also wenig Gründe für die EZB, an ihrer expansiven Geldpolitik festzuhalten. Und die Europäische Zentralbank hat ja bereits einen Kurswechsel in Aussicht gestellt.

In der Zwischenzeit will die Bundesregierung Verbraucher mit einem Tankrabatt und einem 9-Euro-Ticket von den hohen Energiepreisen entlasten. Was halten Sie davon?

Niemand sollte wegen hoher Energie- oder Nahrungsmittelpreise in die Armut schlittern. Als der Krieg ausbrach, haben viele Regierungen deshalb mit Notmaßnahmen reagiert, die eine sehr breite Wirkung entfalten. Aber jetzt brauchen wir Lösungen, die gezielter sind.

Das klingt nach ziemlich diplomatischer Kritik am Gießkannenprinzip der Ampelkoalition.

Ich plädiere für Maßnahmen, die langfristig wirken und jene Menschen entlasten, die besonders von den hohen Preisen betroffen sind.

Solche Maßnahmen kosten viel Geld – und dürften neue Schulden bedeuten. Können sich die OECD-Staaten das leisten?

Tatsächlich ist der Verschuldungsgrad der meisten OECD-Staaten in der Coronapandemie gestiegen, inzwischen werden die Defizite aber schnell kleiner. Allerdings stehen zahlreiche neue Ausgaben an, etwa für die Verteidigungspolitik. Die Regierungen müssen Prioritäten setzen und sich Spielraum bewahren, um jene Menschen zu schützen, die besonders verletzlich sind. Und zugleich müssen sie investieren.

In Deutschland will Finanzminister Christian Lindner (FDP) bis zum nächsten Jahr zur Schuldenbremse zurückkehren. Was glauben Sie, ist dieses Ziel realistisch?

Mir steht nicht zu, das zu entscheiden. Aber es ist klar, dass Staaten jetzt Prioritäten bei ihren Ausgaben setzen müssen. Der Krieg hat gezeigt, dass sich Deutschland – wie auch manche andere europäische Staaten – von fossilen Rohstoffen aus Russland gefährlich abhängig gemacht hat. Deutschland muss sich von der Abhängigkeit von fossilen Energien befreien. Das kann die öffentliche Hand nicht allein meistern, dazu braucht es auch private Investitionen. Nur dann kann die Energiewende funktionieren.

Zum Weiterlesen

The Price of War – Economic Outlook June 2022. OECD-Themenseite zum Wirtschaftsausblick vom Juni 2022

OECD senkt Wachstumsprognose – und sieht nur begrenztes Stagflationsrisiko. SPIEGEL-Artikel (8. Juni 2022)

Nur Russland schneidet wohl noch schlechter ab als Großbritannien. SPIEGEL-Artikel (8. Juni 2022)