Noch vor wenigen Jahrzehnten lebte ein Großteil der Weltbevölkerung auf dem Land, heute ist jeder zweite Mensch Städter. Ab wann ein Ballungsraum als Stadt gilt, dazu gab es dennoch lange keine einheitliche Definition. Eine Initiative von OECD, EU-Kommission und weiterer internationaler Institutionen schließt diese Lücke, indem sie auf Basis neuer, von den Vereinten Nationen anerkannter Definitionen urbane Räume und Verstädterung global erfasst und so Vergleichbarkeit schafft. Mit Hilfe dieser neuen Daten charakterisiert der jetzt auch auf Deutsch erschienene Bericht „Städte der Welt“ von OECD und EU-Kommission Urbanisierungstrends weltweit.
Was macht dieser Definition folgend eine Stadt aus? Und wie können Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf eine sozialverträgliche und umweltfreundliche Stadtentwicklung hinwirken, die dabei hilft, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zu erreichen? Diese Fragen haben wir am 27. August 2020 in einem Webinar diskutiert.
Präsentation:
Rüdiger Ahrend | Abteilungsleiter am OECD-Zentrum für Unternehmertum, KMU, Regionen und Städte
Diskussion:
Heike Henn | Beauftragte für Klimapolitik und Klimafinanzierung im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
Hubert Klumpner | Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich
Alexander Jachnow | Leiter des Instituts für Urban Strategies and Planning am Institute of Housing and Urban Development Studies (IHS) an der Erasmus-Universität Rotterdam
Moderation:
Nicola Brandt | Leiterin des OECD Berlin Centre
Urbanisierung ist ein weltweites Phänomen, so Rüdiger Ahrend zu Beginn seines Vortrags. In den letzten 40 Jahren habe sich die Zahl der Großstädter weltweit verdoppelt, auch seien die Städte in diesem Zeitraum dichter geworden. Etwa 54 Prozent der Weltbevölkerung lebe in Metropolregionen, also der jeweiligen Kernstadt oder umliegenden Pendlerzone. Dass mehr Menschen in Städten leben, bedeute aber nicht, dass die Bevölkerung in anderen Gegenden abnehme. Vielmehr finde das weltweite Bevölkerungswachstum in erster Linie in den Städten statt, und zwar ganz besonders in den großen Metropolen. Das bedeute für diese Städte große Herausforderungen – etwa in den Bereichen Transport, Umweltschutz und Wohnraum. Gleichzeitig gebe es insbesondere in Europa und Ostasien schrumpfende Metropolregionen. Genau wie Wachstum erfordere auch das Schrumpfen der Städte kluge stadtplanerische Entscheidungen.
Ein großes Problem in Zeiten des Klimawandels sei die Gefahr von Überflutungen, so Ahrend. Etwa die Hälfte aller Menschen, die sich neu in Städten ansiedeln, siedeln in flutgefährdeten Gebieten. Fast ein Drittel aller Städte weltweit habe ein potentielles Problem mit Fluten, 630 Städte seien sogar so gelegen, dass sie komplett überflutet werden könnten.
Der früher oft betonte Stadt-Land-Gegensatz ist inzwischen obsolet geworden, heute sei es wichtig, einer dritten Kategorie mehr Beachtung zu schenken, nämlich den kleineren Städten und Gebieten mittlerer Bevölkerungsdichte, so Ahrend. Etwa 28 Prozent der Menschen leben in solchen mittelstark besiedelten Gebieten.
Die Präsentation von Rüdiger Ahrend:
Wie Rüdiger Ahrend unterstrich auch Heike Henn, dass Städte nicht nur vergleichsweise wohlhabend und dynamisch, sondern auch verletzlich sind. „Hier ballen sich die Potenziale aber auch mögliche Fehlentwicklungen und Gefahren“. Ohne den Blick auf die Städte sei es nicht möglich, die Entwicklungs- und Klimaziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Deshalb sei nachhaltige Stadtentwicklung ein zentrales Element der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Im Fokus stehen dabei drei Themen: integrierte und partizipative Stadtplanung, Kommunalfinanzierung und nachhaltiges Bauen.
Dabei ist es auch Henn zufolge wichtig, nicht nur die Großstädte zu sehen: „Urbanisierung ist nicht gleich Megacities“. Stattdessen müsse man entwicklungspolitisch insbesondere Kleinstädte und semi-urbane Gebiete in den Blick nehmen. Beim Übergang zwischen ländlichem Raum und Kleinstädten gebe es oft Raum für wichtige Weichenstellungen – etwa bei der Verkehrsplanung, der medizinischen Versorgung, Bildungsangeboten und Armutsbekämpfung, die positiv zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen können. Mittelgroße Städte sind Henn zufolge außerdem leichter regierbar und gestaltbar als Großstädte. Entsprechend ließen sich hier frühzeitig wirksame Impulse in der Entwicklungszusammenarbeit setzen, etwa durch Allianzen zum Austausch von Erfahrungen und guten Praktiken. Fortschritte in den Klein- und Mittelstädten hätten zudem oft einen dynamisierenden Ausstrahlungseffekt in den ländlichen Raum hinein.
Hubert Klumpner erklärte, es sei wichtig, Trends zu verstehen, aber auch die Ausreißer zu betrachten, die diesem Trend zuwiderlaufen. Urbanisierung lasse sich nicht nur abstrakt in Zahlen ausdrücken, sondern sei ein stetiger Prozess, der einen aufmerksamen Blick auf die jeweilige Situation vor Ort verlange. Dafür brauche es mehr Kooperation zwischen Forschungsstellen und Stadtgesellschaften. Auch eine stärkere Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden und der Wille, aus Erkenntnissen konkrete Handlungen abzuleiten, gehöre dazu. „Wir müssen ins Detail gehen und zuhören“, so Klumpner. Wichtige Kriterien für Lebensqualität in Städten sind Klumpner zufolge Langlebigkeit, Dichte, Fußläufigkeit und geringer Energie- und Materialverbrauch, wie etwa in informellen Siedlungen. Dort Nachhaltigkeit und Sicherheit gezielt zu verbessern, erreicht eine Maximierung eingesetzter Mittel und erlaubt Ermächtigung und Lebensqualität für die gesamte Stadtbevölkerung. Man sehe aktuell den Trend zur Kommerzialisierung der Stadt, dass Innenstädte zwar dichter bebaut aber weniger dicht bewohnt werden. Städter würden aus den Zentren verdrängt und die mangelnde Fußläufigkeit müsse wiederum durch mehr Pendlerverkehr gelöst werden.
Auch Alexander Jachnow ging auf das als „urban sprawl“ oder Zersiedelung bekannte Phänomen ein, dass Städte sich oft ohne Anbindung an städtische Infrastruktur und Dienstleistungen wie Transport oder Bildungseinrichtungen flächenmäßig ausdehnen. Es gebe derzeit in den meisten Städten die Tendenz, dass sie pro neuem Einwohner mehr Quadratmeter verbrauchen als früher und dadurch ausufern. Wohlhabendere Menschen kauften sich peripheres Land und trügen so zur Zersiedelung bei. Das Anschließen dieser Siedlungen an Infrastruktur werde oft zur kostspieligen Herausforderung. Wohnungspolitik sei zwar ein starker Steuerungsfaktor aber auch sie habe ihre Grenzen. Stadtentwicklung sei schließlich ein dynamischer Prozess bei dem die Menschen mit ihren Füßen abstimmen: Sie entscheiden, an welchem Ort sie leben.
Definition von Ballungsräumen nach OECD und EU-Kommission:
1) Größere Städte sind definiert als dicht besiedelte Gebiete mit mindestens 50.000 Einwohnern und einer Dichte von mindestens 1.500 Bewohnern pro Quadratkilometer.
2) Kleinere Städte und Gebiete mittlerer Bevölkerungsdichte sind definiert als Gebiete mit mindestens 5.000 Einwohnern, einer Dichte von mindestens 300 Bewohnern pro Quadratkilometer und mindestens drei Prozent Bebauung.
3) Ländliche Gebiete sind definiert als Gegenden, die keiner Stadt oder mittelstark besiedelten Gegend angehören und deren Bevölkerungsdichte bei weniger als 300 Bewohnern pro Quadratkilometern liegt.
Zum Weiterlesen:
Cities in the World – A New Perspective on Urbanisation. Vollständige OECD-Studie auf Englisch (Juni 2020).
Städte der Welt – Eine neue Perspektive auf Urbanisierung. Deutschsprachige Zusammenfassung der englischen Studie. (August 2020)