„Pandemie legt schlagartig Schwächen im System der Alterssicherung offen“

Dieses Interview mit OECD-Abteilungsleiterin für Sozialpolitik Monika Queisser ist am 7. Januar in der Badischen Zeitung erschienen. Die Fragen stellte Bernhard Walker.

Welche Folgen hat Corona für das deutsche Rentensystem und was hat die deutsche Kurzarbeit-Praxis zum Exportschlager gemacht? Die OECD-Rentenexpertin Monika Queisser gibt Antworten.

Das deutsche Rentensystem kennt viele Baustellen. Kritiker verweisen gerne auf die Altersversorgung in Österreich oder Schweden, wo vieles besser sei. Doch wie steht die deutsche Alterssicherung im europäischen Vergleich tatsächlich da? Dieser Frage geht die BZ in einer neuen Serie nach. Den Auftakt macht ein Interview mit der Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Monika Queisser. Bernhard Walker sprach mit ihr über die Rente in Corona-Zeiten.

Badische Zeitung: Frau Queisser, seit fast einem Jahr hat die Pandemie die Welt fest im Griff. Lässt sich sagen, welche Folgen sich daraus für die Alterssicherung der Menschen ergeben?

Monika Queisser: Noch ist es zu früh, das im Detail analysieren zu können, zumal die Pandemie ja noch anhält. Aber wir beobachten die Reaktionen der Staaten und stellen dabei fest, dass es häufig zu klugen Entscheidungen kommt, die auch die künftige Alterssicherung im Blick haben.

Welche sind das?

Im Zuge der Lockdowns ist die wirtschaftliche Aktivität vielerorts massiv eingebrochen, was die Arbeitsmärkte und natürlich die betroffenen Arbeitnehmer mit steigender Arbeitslosigkeit enorm belastet. Die Alterssicherung wiederum hängt in den meisten Ländern stark von den Beiträgen der Beschäftigten ab, also von Zahlungen, die jetzt bei vielen ganz fehlen oder kleiner ausfallen. Umso bemerkenswerter ist, wie viele Staaten in ihren Modellen der Kurzarbeit auch die Beitragszahlungen berücksichtigen, was sich auf längere Sicht natürlich positiv auf die Alterssicherung auswirken wird.

Kurzarbeit kennt man in Deutschland seit Langem. Ist sie also ein Exportschlager geworden?

(schmunzelt) Jedenfalls gibt es dafür jetzt einen englischen Ausdruck. Staaten, die das Instrument nie kannten, setzen es jetzt ein, und zwar weit mehr, als das bei dem Wirtschaftseinbruch im Zuge der Finanzkrise von 2009 der Fall war. Im Detail unterscheidet sich das weltweit, nicht aber im Ziel. Und das Ziel heißt Sicherung der Arbeitsplätze, und dabei werden Firmen und Beschäftigte oft beim Beitrag für die Alterssicherung entlastet, ohne dass daraus später wesentlich geringere Rentenanwartschaften folgen.

Sie sprachen von Rentensystemen, die auf der Beitragszahlung der Beschäftigten beruhen. Was ist mit Ländern, in denen es eine staatliche Grundrente für alle gibt? Kommen die besser durch die Krise?

Nein, keinesfalls. Eine Grundrente wird aus Steuermitteln bezahlt. Nur sinkt das Steueraufkommen prompt, wenn die Wirtschaft in eine Rezession gerät. Zudem ersetzt die Grundrente vielerorts nur einen kleinen Teil dessen, was jemand im Erwerbsleben als Lohn oder Gehalt verdiente. Dort sind also betriebliche Renten und private Vorsorge für eine auskömmliche Alterssicherung sehr wichtig. Beides gerät in einer Rezession aber ebenfalls unter Druck, wenn die Erträge der Firmen schrumpfen oder ganz ausbleiben oder die Nettoeinkommen der Beschäftigten sinken, was private Vorsorge natürlich schwerer macht.

Andere Staaten haben sich an der Kurzarbeit ein Beispiel genommen. Was kann Deutschland seinerseits von anderen lernen?

Deutschland ist einer von nur vier OECD-Mitgliedsstaaten, in denen nicht alle Selbständigen obligatorisch versichert sind. Das ist seit Langem bekannt und es wird jetzt auch an einer Lösung gearbeitet, durch die Pandemie tritt das Problem jetzt aber mit Wucht zu Tage.

Warum?

Weil in Deutschland, wie auch andernorts, jetzt auch vorher gut verdienende Selbständige in Not geraten, von denen man das nie gedacht hätte – seien es Gastronomen, Einzelhändler, Kunstschaffende, Messebauer oder Selbstständige im Event- und Freizeitbereich. Die Pandemie legt schlagartig Schwächen im System der Alterssicherung offen, die die Staaten angehen müssen. Das ist nicht nur in Deutschland der Fall, dort aber bei vielen Selbständigen auf sehr massive Weise, weil eben viele keine ausreichende Versicherung haben.

„Ich bin in meiner Arbeit zu einer festen Überzeugung gekommen: Eine Politik der kleinen und manchmal vielleicht beschwerlichen Schritte funktioniert oft besser.“ Monika Queisser

Was also tun?

Zunächst gilt es zu verhindern, dass Menschen ihre angesparte Altersversorgung auflösen oder eine für die Altersvorsorge vorgesehene Immobilie verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen. Und dann muss es darum gehen, ihnen einen Zugang zur Altersversorgung zu geben, was im Falle Deutschlands heißt: einen Zugang zur gesetzlichen Rentenversicherung, den sie aus ihrem Umsatz aufbringen können. Mit der Künstlersozialkasse hat Deutschland dabei für bestimmte Berufsgruppen ein Modell. Daran könnte man sich orientieren, um den Mangel an Sicherung zu überwinden, den die Pandemie bei vielen Selbständigen zeigt.

Das setzt politischen Willen und mühsame Arbeit an komplizierten Fragen voraus.

Ja, das ist bei Rentenreformen allgemein so. Ich bin in meiner Arbeit aber zu einer festen Überzeugung gekommen: Eine Politik der kleinen und manchmal vielleicht beschwerlichen Schritte funktioniert oft besser. Die Vorstellung, dass man einmal das ganze große Rad drehen kann und damit bei der Alterssicherung ein für alle Mal alles ins Lot bringt, erweist sich oft als Illusion. Dafür wandeln sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen schlicht zu schnell, und Nachbesserungen sind die Regel. Diese aber kommen bei der Bevölkerung schlecht an, wenn vorher gesagt wurde, dass das Problem mit einer Reform erledigt sein würde.