Plattformarbeit: Nur prekär oder mehr?

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Wie die Plattformökonomie zum Nutzen ihrer Beschäftigten gestaltet werden kann

Von Stijn Broecke und Sandrine Cazes, OECD-Direktion Beschäftigung, Arbeit und Sozialfragen

Englische Fassung ursprünglich erschienen im OECD Observer

Haben Sie schon einmal mit dem Smartphone ein Taxi gerufen? Essen bestellt? Unterstützung im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung organisiert? Wenn ja, dann haben Sie dafür wahrscheinlich eine digitale Plattform genutzt. Millionenfach werden tagtäglich Dienstleistungen aller Art über Onlineplattformen angeboten oder nachgefragt.

Digitale Plattformen erleichtern Verbrauchern das Leben, weil sie Dienstleistungen oft billiger und schneller verfügbar machen, möglicherweise auch die Qualität verbessern. Weil sie auf reale Arbeitskräfte angewiesen sind, bieten sie Millionen Menschen eine Beschäftigungsmöglichkeit, mal hauptberuflich, mal als Zuverdienst. Was viele von ihnen an der Plattformarbeit schätzen ist, dass sie sich mit anderen Verpflichtungen vereinbaren lässt und somit möglicherweise eine bessere Work-Life-Balance bietet als andere Tätigkeiten.

Beim genaueren Hinsehen allerdings zeigen sich die Schattenseiten der neuen Arbeitswelt. Dazu zählen vor allem die prekären Arbeitsbedingungen einiger Plattformarbeiter. Viele müssen lange Arbeitszeiten in Kauf nehmen, um von ihrer Arbeit leben zu können. Manche leiden auch darunter, weder geregelte Arbeitszeiten noch ein verlässliches Einkommen zu haben, dafür aber auf Abruf jederzeit einsatzbereit sein zu müssen.

Vom Status hängt auch der Schutz ab

Während die Plattformökonomie sich rasend schnell etabliert hat, lassen Anpassungen der rechtlichen Rahmenbedingungen teils auf sich warten. Auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird eine angemessene politische Antwort auf die neuen Beschäftigungsformen noch diskutiert. Obwohl sich in den vergangenen Jahren viel geändert hat, beruhen Sozialleistungen, Beschäftigungsbestimmungen und Tarifverhandlungen in vielen Ländern noch immer auf der Vorstellung, eine stabile Vollzeitbeschäftigung in unbefristeter Festanstellung bei einem einzigen Arbeitgeber sei der Normalfall. Viele der heutigen Gigworker sind jedoch formal keine Arbeitnehmer, sondern werden als Selbständige betrachtet. Sie sind nicht bei den Plattformen angestellt und erhalten von diesen keinen Lohn. Stattdessen „verkaufen“ sie ihre Dienstleistungen an die Plattformunternehmen. Wegen ihres Selbständigenstatus finden die üblichen Arbeitnehmerrechte und Arbeitsschutzbestimmungen unter Umständen keine Anwendung. So haben etwa viele Plattformarbeiter keinen Anspruch auf Kündigungsschutz, Mindestlohn, Arbeitslosenunterstützung oder Rentenleistungen. Auch haben sie nicht das Recht, sich zu organisieren und kollektive Verhandlungen zu führen.

Nicht alle Plattformarbeiter benötigen mehr Schutz: Einige sind erfolgreich, haben viele Kunden und können ihre Preise und Arbeitsbedingungen weitgehend selbst bestimmen. Andere aber sind von einem einzigen Kunden oder einer einzigen Plattform abhängig, was sie angreifbar macht und ihre Verhandlungsmacht schwächt, insbesondere, wenn sie kaum andere Verdienstmöglichkeiten haben.

Ob wirklich alle Plattformarbeiter selbständig arbeiten, oder ob sie nicht vielmehr bei ihren Plattformen angestellt sind, ist in mehreren Ländern rechtlich umstritten. Teils könnte es sich auch um Scheinselbständigkeit handeln. Der Arbeitgeber (die Plattform) könnte das Selbständigen-Modell anstatt eines regulären Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses gewählt haben, um Steuern zu sparen und sich der Regulierung zu entziehen.

In den meisten OECD-Ländern bietet das bestehende Arbeitsrecht bereits Mittel, um den Beschäftigungsstatus der betroffenen Arbeitskräfte in solchen Fällen zu ändern. Dadurch wird es ihnen ermöglicht, Arbeitnehmerrechte und Arbeitsschutzbestimmungen in Anspruch zu nehmen. In der Praxis sind aber unter Umständen zusätzliche Maßnahmen notwendig, um eine ungerechtfertigte Einstufung als Selbständige zu verhindern. Dazu zählen etwa die Verringerung von Steueranreizen oder bessere Möglichkeiten für Plattformarbeiter, ihren Status rechtlich anzufechten. Zudem könnte man Fehleinstufungen von Arbeitskräften strenger ahnden und die Kapazitäten der Arbeitsaufsicht zur Aufdeckung von Verstößen stärken.

In manchen Fällen ist der Status von Plattformarbeitern jedoch tatsächlich schwer zu bestimmen. Trotz einiger aufsehenerregender juristischer Erfolge gehen gerichtliche Entscheidungen über den Beschäftigungsstatus von Plattformarbeitern recht unterschiedlich aus. Dies zeigt, wie schwierig eine eindeutige Abgrenzung ist. Einige Plattformarbeiter haben zwar Gemeinsamkeiten mit Selbstständigen, weisen aber auch arbeitnehmerähnliche Eigenschaften und ein vergleichbares Schutzbedürfnis auf. Um auch ihnen Rechte und Absicherung zu gewähren, muss die Politik umdenken.

Verhandlungsrechte auch für Plattformarbeiter

Das betrifft etwa das Koalitionsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen. Selbständige haben diese Rechte in der Regel nicht, weil sie als Unternehmen gelten. Kollektive Preisvereinbarungen könnten von den Kartellbehörden als unzulässige Absprachen eingestuft werden, weil sie möglicherweise Nachteile für die Verbraucher mit sich bringen. In Wirklichkeit aber sind viele Plattformarbeiter einzeln tätig und können keine Preisabsprachen treffen. Und obwohl sie formal als selbständig gelten, können sie den Preis für ihre Dienstleistungen nur selten selbst bestimmen und haben nicht mehr Marktmacht als abhängig Beschäftigte. Entsprechend könnte es sinnvoll sein, auch ihnen ein Recht auf kollektive Verhandlungen zuzugestehen.

In mehreren OECD-Ländern wurden Tarifverhandlungsrechte bereits auf bestimmte Selbständige ausgeweitet, bei denen ein unausgewogenes Kräfteverhältnis vorliegt, wie etwa finanzielle Abhängigkeit von einem einzigen Auftraggeber. Dazu wurden entweder gezielte Anpassungen an den arbeitsrechtlichen Bestimmungen vorgenommen, z. B. in Deutschland, Kanada, Schweden und Spanien, oder bestimmte Formen der Selbständigkeit oder einzelne Sektoren vom Kartellverbot befreit. In Irland beispielsweise sind drei Berufssparten – professionelle Sprecher, Session-Musiker und freiberufliche Journalisten – explizit vom Wettbewerbs- und Kartellrecht ausgenommen. In Australien gestattet der Competition and Consumer Act 2010 Unternehmen kollektive Verhandlungen mit Zulieferern oder Kunden, sofern dies im öffentlichen Interesse liegt. Diese Ausnahmeregelungen könnten auch einigen Plattformarbeitern zugutekommen.

Die Sozialpartner stellen sich ebenfalls auf diese neuen Herausforderungen ein. Einige Gewerkschaften werben um neue Mitglieder, indem sie sich verstärkt mit der Frage des Beschäftigungsstatus auseinandersetzen und staatliche Maßnahmen fordern oder spezielle Unterorganisationen für die Belange von Gigworkern einrichten. Zugleich entstehen neuartige Formen von Interessensvertretungen, die sich moderne Technologien zunutze machen, um Arbeitskräfte anzusprechen. Ein Beispiel ist Coworker.org. Auf dieser Onlineplattform können Erwerbstätige unternehmensspezifische Netzwerke gründen. Das hilft ihnen, Daten zu sammeln und aus ihren Anliegen und Forderungen konkrete Kampagnen zu entwickeln.

Fazit

Der Wandel der Arbeitswelt stellt uns vor große Herausforderungen. Um sie zu bewältigen, braucht es sowohl die traditionelle Tarifpartnerschaft als auch neue Formen des sozialen Dialogs zwischen den Betreibern von Plattformen und den für bzw. über sie tätigen Dienstleistern. Die Politik sollte sich dafür einsetzen, dass sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gegenüber den neuartigen Unternehmen und „atypischen“ Beschäftigungsformen öffnen, ohne die Entstehung anderer Organisationsformen oder innovativer Geschäftsmodelle zu hemmen.

Um die Zukunft der Arbeit zum Wohle aller zu gestalten, müssen wir auch allen Arbeitskräften der Plattformökonomie eine Stimme geben. Natürlich auch jenem Fahrer, den Sie letztens übers Smartphone gerufen haben.

Literaturhinweise

OECD (2019), OECD Employment Outlook 2019: The Future of Work, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/9ee00155-en

OECD (2018), The Future of Social Protection: What Works for Non-standard Workers?, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/9789264306943-en